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Die Kosten der Freiheit

Freiheit will jeder. Doch was genau ist damit gemeint?

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.
Kauf dich frei!
Kauf dich frei!

Welche Kraft liegt in Freiheit, und was vermag sie zu bewegen? In Vietnam lässt sich diese Frage konkret beantworten: Freiheit ist so stark wie neun Pferde und in der Lage, eine Schweinehälfte kilometerweit zu befördern. Denn wo Freiheit die Form eines Motorrollers hat, erübrigen sich weitere philosophische Betrachtungen.

Älteren Deutschen wird dies bekannt vorkommen. Bevor Trabi und Käfer zu Volkswägen wurden, bewegte sich die Bevölkerung auf zwei Rädern. Sogar dann, wenn es darum ging, größere Distanzen zu überbrücken. In der BRD und der DDR der 50er Jahre transportierte man vielleicht keine Schweinehälften, aber das Ausflugs- und Urlaubsgepäck schon. Freiheit bedeutete Mobilität. Und noch früher nicht einmal das. Im Hungerwinter 1946/47 zählte nur die Freiheit, nicht zu sterben.

Kein neues Phänomen in der Menschheitsgeschichte. Der Französischen Revolution 1789 gingen explodierende Brotpreise voraus. Die verheerende Lebensmittelversorgung war auch der Brandbeschleuniger für die Russische Revolution 1917. Und der Aufstand vom 17. Juni 1953 wurde durch die Missernten des Jahres 1952 und die nachfolgende Ernährungskrise entscheidend angefacht. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die vermeintlichen Freiheitskämpfe als Überlebenskämpfe.

Doch in den Geschichtsbüchern liest sich das anders. Da ist weniger von leeren Bäuchen als von hehren Ideen die Rede. Marxistisch gesprochen: Vor lauter philosophischem »Überbau« wird die ökonomische »Basis« übersehen. Aber das ist nichts Neues. Bertolt Brecht konstatierte bereits 1928 in seiner »Dreigroschenoper«: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.«

Bloß will dies in Zeiten, in denen selbst die Linkspartei lieber über den Überbau (Identitätspolitik) als über die Basis (Klassengesellschaft) redet, keiner mehr hören. Man hat auch vergessen, dass der Begriff Freiheit in den westlichen Gesellschaften nach 1945 anders benutzt wurde. In der Spätphase der Weimarer Republik war »Freiheit!« die Antwort auf »Heil Hitler!« gewesen. Mit diesem Kampfgruß (inklusive geballter Faust) machten die Mitglieder der »Eisernen Front« – einem Bündnis aus SPD, Freien Gewerkschaften, dem Arbeiter-Turn- und Sportbund sowie der Massenorganisation »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« – deutlich, was sie vom Führerkult hielten.

Doch mit dem Kalten Krieg wurde Freiheit zum Gegenpol des Sozialismus. Und den fürchteten im Westen viele. In den Adenauer-Jahren schwärmten höchstens noch die Jusos vom Sozialismus. Mit der 68er-Bewegung stieg dessen Popularität kurzfristig an. Aber Willy Brandt, einem ehemaligen Linkssozialisten, reichte ein »mehr Demokratie wagen«. Sozialismus war zum Schreckgespenst der sogenannten braven Bürger geworden. Als die Unionsparteien 1976 mit den Slogans »Freiheit statt Sozialismus« und »Freiheit oder Sozialismus« in den Bundestagswahlkampf zogen, schrappten sie nur haarscharf an der absoluten Mehrheit vorbei. Vermutlich wäre die Rechnung aufgegangen, hätte der SPD-Kandidat nicht Helmut Schmidt geheißen; ein ehemaliger Wehrmachtssoldat, von dem schwerlich Klassenkampf und Weltrevolution zu erwarten waren.

Die Revolution fand dann auch ohne Schmidt statt, aber anders als erwartet. Mit dem Zusammenbruch des »Ostblocks« 1989 verlor die Freiheit ihren gehassliebten Gegenpart – was ihr nicht gut bekam. Ohne Systemkonkurrenz wurde sie größenwahnsinnig. Das Ende des »real existierenden Sozialismus« (Erich Honecker) war der Beginn einer megalomanischen Selbstüberschätzung. Als Sieger der Geschichte fühlte sich der Westen berufen, das Massenprodukt Freiheit mit aller Gewalt in den globalen Markt zu drücken. Der Exportweltmeister Deutschland marschierte dabei vorneweg, erst im Kosovo, dann in Afghanistan.

Auf dem Papier las sich das alles gut: Man propagierte freie Wahlen, eine freie Justiz, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit. Und übersah dabei einen entscheidenden Punkt: All diese Freiheiten sind ohne wirtschaftliche Freiheit nichts wert. Womit wir wieder bei Brecht wären. Wer beim Fressen zu kurz kommt, hat andere Prioritäten als eine funktionierende Gewaltenteilung.

Manche mögen es vergessen haben: Russland und die Türkei waren in den 90er Jahren Demokratien. Dass Putin und Erdoğan legal an die Macht gelangen konnten, wurde dadurch begünstigt, dass beide Länder schwerste Wirtschaftskrisen durchliefen. In Russland hatte es einen Staatsbankrott gegeben und in der Türkei war die Währung kollabiert, woraufhin massenhaft Firmen pleitegingen und die Zahl der Arbeitslosen nach oben schoss. Inmitten dieser Rezession wurden Politiker wie Putin und Erdoğan als Heilsbringer begrüßt.

Beide profitierten davon, dass die Freiheit der Wirtschaft dem Gros der Bevölkerung nicht mehr wirtschaftliche Freiheit gebracht hatte. In Russland verloren Menschen im Zuge der Schockliberalisierung erst ihre Arbeit, dann ihre vormals günstige Wohnung und schließlich das Vertrauen in die neuen »freieren« Verhältnisse, die sich von den alten dadurch unterschieden, dass die Apparatschiks von gestern die Oligarchen von heute waren – Führungskader, die ihr Herrschaftswissen raubtierkapitalistisch versilbert hatten.

Unter diesen Voraussetzungen hatte Putin es leicht, die Stimmen der Unzufriedenen einzusammeln. Der Projektleiter des Deutsch-Russischen-Forums Alexander Rahr erkannte bereits 2008: »So eine Persönlichkeit wie Putin wurde von der Bevölkerung herbeigesehnt. (…) Liberale Menschenrechte sind weniger attraktiv als soziale Fürsorge.«
Was auf Russland zutrifft, gilt erst recht für das Reich der Mitte. Abermillionen von Chinesen ist es gelungen, binnen 40 Jahren aus bitterster Armut in die Mittelschicht aufzusteigen – das ist nicht der Boden, auf dem Regimekritik gedeiht. Zumal sich der Westen selbst in Zurückhaltung übt, wenn man es dort mit der Freiheit nicht so genau nimmt. Seitdem China ein wichtiger Handelspartner und die verlängerte Werkbank des Westens ist, wird großzügig über Menschenrechtsverletzungen und Demokratiedefizite hinweggesehen.

Diese selektive Ignoranz hat Tradition. Während die USA kräftig mithalfen, demokratisch gewählte Regierungen wegzuputschen (wie die von Salvador Allende in Chile 1973), sobald »kommunistische Gefahr« im Verzug war, ließ man Militärdiktaturen gewähren, solange die Handelsbilanz stimmte und der Rohstofffluss nicht stockte.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Willkommen im Jahr 2022! Ein Gewaltherrscher überfällt ein Land und überzieht es mit einem Bombenteppich. Zugleich lässt die heimische Nachrichtenagentur verlautbaren, dass jene, die sich zur Wehr setzen, »so weit wie möglich auf dem Schlachtfeld vernichtet werden« und dass nach dem Sieg die »Bevölkerungsmasse« endlich »die gerechte Bestrafung« und eine »Umerziehung« erfahren würde. Uff!

Wie reagiert der Westen auf diese Drohung? Was tun jene Politiker, die in Sonntagsreden nicht müde werden, den Wert der Freiheit heraufzubeschwören? Verzichten sie auf Erdgaslieferungen, die sich der Aggressor jeden Tag mit mehreren Hundert Millionen Euro entlohnen lässt? Drehen Sie sofort den Geldhahn zu, der die Morde finanziert? Natürlich nicht. Denn auch in Europa steht im Zweifel die wirtschaftliche Freiheit über allen anderen Freiheiten.

Deshalb macht ein grüner Wirtschaftsminister den Kotau vor dem Emir von Katar, einem Land, in dem die Scharia gilt und das bei der »Democracy Matrix« der Universität Würzburg Platz 169 von 176 Staaten belegt – hinter dem Iran und Belarus. Dass der Emir den Tod von 6500 Bauarbeitern zu verantworten hat, die die WM-Stadien errichteten – geschenkt! Wer wollte kleinlich Leichen zählen, wenn es um eine »Energiepartnerschaft« geht! Und überhaupt: In punkto Schurkentum setzt Russland inzwischen die Maßstäbe. Ist da nicht Katar das kleinere Übel? Und darf man so denken? Lässt sich jede Grausamkeit relativieren, weil sich irgendwo auf dem Erdball immer noch ein größerer Barbar findet?

Das ist der Punkt, an dem einem dämmert: Freiheit hat ihren Preis. Damit wir im Westen unsere wirtschaftliche Freiheit in vollen Zügen genießen können, verlieren anderswo Menschen ihr Leben. Neu ist diese Erkenntnis nicht. Bereits in den frühen 80ern trug die »Marxistische Streit- und Zeitschrift« den Untertitel »Gegen die Kosten der Freiheit«. Nach dem Blutbad in Butscha wäre es an der Zeit, diese zu beziffern.

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