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Lasst uns in Frieden (41): Der Mensch ist wie aus Zinn
Von Zinnsoldaten und Kriegsspielen für Kinder
Noch bevor sie sicher auf den Beinen stehen konnten, erhielten europäische Kronprinzen eine Gefolgschaft aus Zinnsoldaten. Die erste Erwähnung dieser Spielzeugart stammt von dem Erzieher Ludwigs XIII., der nach der Ermordung seines Vaters mit neun Jahren König wurde und das Spiel mit den kleinen Figuren bis zur Obsession betrieb: »Es wurde gefrühstückt, dann ließ er seine Menschlein von Blei holen und stellte auf dem entsprechend zubereiteten Tische seine Schwadronen auf«, schrieb Jean Héroard im Jahr 1610. »Er lässt sich verschiedene Gefechtsordnungen bilden und lässt sich vom Spiel nicht trennen.«
Die enorme Symbolkraft der kleinen Armeen, die vom Vater auf den Sohn übergingen, ließ regelmäßig die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit verschwimmen. Der Sonnenkönig Ludwig XIV. fing an, Ausschau nach den besten Zinnsoldaten zu halten, als sein Sohn noch ein Säugling war. Er schickte seinen Finanzminister Colbert auf Suche nach Deutschland; später schickte er seinen Kriegsingenieur Vauban nach Nürnberg, wo Handwerker als geniale Konstrukteure von mechanischem Spielzeug wirkten. Sie fertigten etwa mähende Bauern, Vögel und Ochsen. Die Franzosen bestellten Soldaten. In Nürnberg und Augsburg verwendete man Zinn, weil es leicht zu verarbeiten ist, auch wenn es gerade deshalb empfindlich und wenig haltbar ist.
Seitdem wurde die Aufrüstung durch Zinnsoldaten ein auf besondere Weise deutsch-französisches Projekt. Doch die neue Mode verbreitete sich auch andernorts. Peter III. hatte bei Sankt Petersburg ein eigenes Schlösschen, wo er seine Figuren hortete. Heute sind 60 000 Zinnsoldaten im Petersburger Suworow-Museum ausgestellt.
Von der Kindheit Friedrichs des Großen wird berichtet, dass er von seinem Vater, dem Soldatenkönig, angehalten wurde, die Paraden der Grenadiere in Potsdam anzuschauen, um Liebe zum Soldatenstand zu entwickeln. Seine spätere Kriegslust hatte u. a. zur Folge, dass die Fabrikation von Zinnsoldaten einen neuen Höhenpunkt erreichte.
Die Grenze zwischen Mensch und Materie verschwamm scheinbar am Potsdamer Hof. Im Jahr 1764 war Casanova dort und staunte über die Kunstfertigkeit der Exerzierenden: »ich erschien dort in dem Augenblick, als seine Majestät das Elitebataillon seiner Garde exerzieren ließ … Nichts konnte merkwürdiger sein als Ihre Übungen. Die Menge der Köpfe, der Arme und Beine schienen eines und desselben Körpers zu sein. Das Bataillon bewegte sich geschickt wie ein einziger Mann; eine Maschine hätte es besser nicht machen können.« Doch davor hatte Friedrich furchtbare Lehrjahre, als seine Truppen im Zweiten Schlesischen Krieg wegen mangelnden Nachschubs hungerten. Friedrich musste sich eingestehen: »Wenn man das Gebäude einer Armee aufführen will, darf man nicht vergessen, dass der Magen der Grundstein ist.« Die Natur des Menschen erscheint leicht formbar, ist aber empfindlich und fragil wie Zinn.
Die Schlachtplätze der Zinnsoldaten dehnten sich von den Königshäusern bis zu den weihnachtlichen Wohnstuben des städtischen Bürgertums. Man frönte dort der unendlichen Vielfalt der friderizianischen Uniformen: die Grenadiere mit ihren merkwürdigen steilen Kopfbedeckungen - schmal und hoch, um den Holzgranaten nicht in die Quere zu kommen -, die Feldscheren mit ihren roten Westen, die Dragoner, die Pelzmützenhusaren, die Füsiliere.
Die ungeheuerliche Lebendigkeit des Kriegsspiels beschrieb E. T. A. Hoffmann im Jahr 1816 in seiner berühmten Erzählung: Nach Heiligabend kam es zu einem Gefecht zwischen der vom Nussknacker geleiteten Husarenarmee des Fritz Stahlbaum und der Armee des siebenköpfigen Mäusekönigs. Weil die Husarenarmee vor dem schrecklichen Feind Feigheit zeigte, musste die Schwester von Fritz ihren »Pantoffel zur rechten Zeit« gegen das Mäuseheer einsetzen. Auch im 19. Jahrhundert mit seinen langen Friedenszeiten, erinnerten die Zinnsoldaten des Rokoko an glorreiche Kriege, die in den Kinderzimmern überwinterten.
Der Kronprinz Wilhelm starb im Jahr 1940 bei der Erstürmung von Valenciennes. Friedrich der Große hatte im Alter eine Revue der schlesischen Regimenter im August 1785 abgenommen, von sechs bis zwölf 12 Uhr, in strömendem Regen. Auch wenn er keine Kriegspolitik mehr betrieb, waren ihm die Details und die Ordnung der Männer und der Uniformen so wichtig wie eh und je. Nach dieser Strapaze verlor er seine Gesundheit und starb ein Jahr später. Der Mensch ist wie aus Zinn, fantastisch formbar, aber er zersetzt sich irgendwann.
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