Wenn der Gesprächsfaden abreißt

Das Ableben von Holocaust-Überlebenen hinterlässt eine Lücke, die nicht zu schließen ist.

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Leere wird größer. Fast jeden Tag. Manchmal geschieht das von der Öffentlichkeit gänzlich unbemerkt, weil nur die engsten Angehörigen um einen jener Menschen trauern, die Hitler eigentlich vernichten wollte, die ihn um Jahrzehnte überlebt haben und die nun das Ende ihres Leben erreichen, erreicht haben, bald erreichen werden.

Manchmal aber geschieht das unter großer öffentlicher Anteilnahme, weil Überlebende der Shoah bis zuletzt ein öffentliches Leben führen. Eines, das sie dazu nutzen, um vor den Gefahren zu warnen, die faschistische Tendenzen für die Welt bedeuten. So, wie Günter Pappenheim das getan hatte, der am 31. März 2021 starb, womit die Leere wieder ein Stück mehr um sich griff. So sehr hatte er sein Leben dazu genutzt, die Jungen vor den Fehlern der Alten zu warnen, dass es in Weimar eine Gedenkminute gab, nachdem er aus dem Leben geschieden war. Vor einem großen Schwarz-Weiß-Porträt Pappenheims hatten Menschen damals für einen Moment in Stille und Trauer verharrt, um an ihn zu erinnern.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Einen seiner letzten großen öffentlichen Auftritte hatte Pappenheim im Thüringer Landtag im Jahr 2018. Damals hatte er dort vor Dutzenden Schülern erzählt, wie seine Familie schon vor der Reichspogromnacht 1938 angefeindet und entrechtet worden war, unter welchen Zuständen Juden wie er damals leben mussten. Schon vor dieser verhängnisvollen Nacht, so der 1925 im südthüringischen Schmalkalden geborene Mann, hätten einige Kinder seinem zwei Jahre jüngeren Bruder eine Schlinge um den Hals gelegt. »Wenn ich nicht eingegriffen hätte, weiß ich nicht, ob er das überlebt hätte.«

Er selbst wurde später durch die Nazis - Deutsche, wie er - erst in ein Arbeitslager verschleppt. Im Oktober 1943 kam er dann ins Konzentrationslager Buchenwald. Zum Verhängnis wurde ihm, dass er für französische Zwangsarbeiter am französischen Nationalfeiertag die Marseillaise gespielt hatte und daraufhin denunziert worden war. All das hatte Pappenheim vor etwa vier Jahren mit der leisen, gebrechlichen Stimme eines Über-90-Jährigen erzählt, dessen Geist zwar noch hellwach war, dessen Körper ihm aber mehr und mehr den Dienst versagte.

Anders in einem Videointerview aus dem Jahr 2012, in dem Pappenheim aus seinem Leben erzählt. Davon, dass er in einer glücklichen Familie aufwuchs, davon, wie er verhaftet wurde, davon, was ihm in Buchenwald widerfuhr. Seine Stimme damals war deutlich kräftiger als 2018. Seine Augen wacher. Seine Körpersprache lebendiger.

Dieses Video überdauert seinen Tod. Heute ist es im Internet auf der Seite des Erinnerungsortes Topf & Söhne zu finden, der in Erfurt daran erinnert, dass es deutsche Ingenieurskunst war, die zum industriellen Massenmord an den Juden in der Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich beigetragen hat. Insgesamt zehn Interviews mit Überlebenden sind auf der Webseite zu finden, unter anderem auch mit Esther Bejarano und Éva Fahidi-Pusztai, die beide weit über die Grenzen Deutschlands hinaus als stete Mahnerinnen für Menschlichkeit und Demokratie bekanntgeworden sind. Wie Pappenheim haben sie bis ganz zum Ende ihres Lebens erzählt, wie es früher war, damit die Welt morgen ein besserer Ort sein kann.

Interviews mit Shoah-Überlebenden wie dieses werden in einigen Jahren die einzigen Quellen sein, aus denen diese Menschen zu den Nachgeborenen in Bewegtbildern mit ihren eigenen Stimmen werden sprechen können. Denn in absehbarer Zeit werden die Stühle, auf denen Zeitzeugen wie Pappenheim, Bejarano oder Fahidi-Pusztai in der Vergangenheit Platz genommen haben, nicht nur im Thüringer Landtag, sondern überall auf der Welt gänzlich leer bleiben.

Für die Erinnerungskultur ist das Ableben dieser Menschen eine Zäsur. Schon seit mehreren Jahren bereiten sich Gedenkstätten und Museen auf den Moment vor, da auch der letzte Zeitzeuge gestorben sein wird. »Ich habe es auch ganz persönlich immer als einen großen Schatz empfunden, dass Überlebende ihre Erfahrungen mit uns teilen«, sagt die Leiterin des Erinnerungsortes, Annegret Schüle. Nun, da ihre Zahl immer kleiner werde, sei an der Zeit, auf das persönliche Gespräch mit ihnen Schritt für Schritt die Videointerviews folgen zu lassen. Das Interview mit Pappenheim liegt zwar schon lange im Archiv des Erinnerungsortes Topf & Söhne vor, ist aber erst seit Ende 2021 im Internet abrufbar.

Diese Videointerviews können allerdings das Gespräch mit Überlebenden nicht eins zu eins ersetzen; da sind sich Schüle und der Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, Karsten Uhl, einig. Das unterstreicht, welcher Einschnitt sich gerade vollzieht. In der Dauerausstellung der Gedenkstätte wird schon seit einigen Jahren mit kurzen Ausschnitten von Zeitzeugenvideos gearbeitet.

Zwar gebe es etwa im pädagogischen Umgang mit Videointerviews und Zeitzeugengesprächen durchaus Gemeinsamkeiten, sagen sowohl Schüle als auch Uhl. Wenn etwa Jugendliche mithilfe eines Zeitzeugengesprächs oder eines Videointerviews etwas über die Zeit des Nationalsozialismus lernen sollten, sei es in beiden Fällen wichtig, sie auf das vorzubereiten, was sie dabei hörten und sähen. Ebenso müsse es eine Nachbereitung geben. Pädagogen müssten die Jugendlichen mit der Biografie des Menschen vertraut machen, der zu ihnen spricht, entweder von Angesicht zu Angesicht oder von einer Aufzeichnung aus.

Allerdings, sagen die Historikerin und der Historiker, fehle bei den Videointerviews am Ende doch der persönliche Kontakt mit einem Überlebenden. Einerseits, formuliert Uhl, gerate leicht in Vergessenheit, dass der Holocaust noch nicht allzu lange her ist. »Das war vor gerade mal einem Menschenleben«, sagt er. Man begreife das umso besser, wenn jemand, der diese Zeit erlebt habe, direkt vor einem sitzt. Andererseits sei es natürlich nicht möglich, bei einem Videointerview Rückfragen zu stellen, sagt Schüle. So bleiben Facetten aus dem Leben eines Zeitzeugen möglicherweise ausgeblendet, obwohl das Interesse der Jugendlichen dafür besonders groß ist.

Eine mögliche Folge: Gerade junge Menschen könnten weniger emphatisch auf ein Videointerview reagieren als auf ein Zeitzeugengespräch, was sich wiederum auf ihr Interesse an der Geschichte auswirken könne. Das sei umso schwerwiegender, weil das Gespräch mit Überlebenden für viele Menschen wertvoll sei und das Interesse an einer intensiven Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus maßgeblich wecken könne, sagt Uhl.

Auch bei ihm selbst war das so. Noch immer kann Uhl sich sehr genau an einen Satz erinnern, den er in einem Zeitzeugengespräch von einem Mann gehört hat, der während des Krieges in Mittelbau-Dora gefangen gehalten wurde. Dieser Mann - ein ungarischer Jude - habe davon erzählt, wie er 1944 an der Rampe von Auschwitz stand und jemand darüber entschied, ob er als arbeitsfähig eingestuft oder direkt »ins Gas« geschickt werden würde. Dabei habe der Mann sich daran erinnert, wie ihm ein Kapo in Auschwitz vor dieser Auswahl einen Satz zugeraunt habe, der letztlich sein Leben gerettet hat. »Du bist 16, du hast einen Beruf!« Die ganze Zeit habe er im Gespräch auf Englisch gesprochen, sagt Uhl, aber diesen einen Satz habe er in dem Interview auf Deutsch wiedergegeben. Der Jugendliche - damals noch keine 16 Jahre alt - sagte das einem SS-Mann an der Rampe, was ihn vor dem Tod rettete. Er wurde zum Arbeiten gezwungen, die anderen aus seiner Familie wurden ermordet. »Dieser Satz wird mich ein Leben lang begleiten«, sagt Uhl.

Wenn sich solche Sätze nun in absehbarer Zeit nur noch auf Leinwänden oder Tablets wiedergeben lassen, dann wird das dazu führen, dass für die Erinnerung an die Shoah die Orte noch wichtiger werden, an denen die Verbrechen der Nazis und ihrer Millionen Helfer stattgefunden haben. Also Gedenkstätten wie Buchenwald, Mittelbau-Dora, Dachau, natürlich Auschwitz oder auch Erinnerungsorte wie Topf & Söhne.

An diesen historischen Orten, sagen Schüle und Uhl, lasse sich mit Besuchergruppen etwa in Seminaren mit den oft langen Videointerviews arbeiten. Aber auch einzelne prägnante Aussagen aus den Gesprächen könnten anhand von Exponaten oder Akten leicht in einen größeren Kontext eingeordnet werden. Im Fall der Firma Topf & Söhne, die Krematorien für Konzentrationslager entwickelte, lässt sich so ein Spannungsfeld darstellen, das die Geschichte des Holocausts durchzieht. »Da ist die kalte, technische und in unserem Fall kaufmännische Sprache der Täter«, sagt Schüle. Die lasse sich in all den Unterlagen finden, die davon zeugen, mit welcher Akribie und mit welchem Gewinnstreben man bei Topf & Söhne am Massenmord mitwirkte. »Und dann sind da als Kontrast die sehr persönlichen Schilderungen der Menschen, die erlebt haben, wozu das geführt hat, die das erleiden mussten.«

Eine der für Schüle eindringlichsten Schilderungen aus einem Zeitzeugengespräch stammt von Éva Fahidi-Pusztai, die noch lebt und auch im Alter von 96 Jahren nicht daran denkt, damit aufzuhören, die nachfolgenden Generationen vor dem zu warnen, was der Glaube an die Überlegenheit einiger Menschen gegenüber anderen hervorbringen kann. Ganz am Ende eines Gesprächs, das als Videointerview auf der Webseite des Erinnerungsorts abgerufen werden kann, formuliert sie ihre Botschaft für die Nachwelt, die sie auf einen Satz zuspitzt: »Wenn es keine Demokratie gibt, ist es nur ein Schritt zum Massenmord.«

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