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Ein Abgesang

Die radikale Linke ist in der Krise: Aktive aus der Interventionistischen Linken sprechen nun gar davon, Geschichte geworden zu sein

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 7 Min.

Es war vor einem Jahr, als ein verstreutes Grüppchen in der nächtlichen Hasenheide in Berlin-Neukölln stand, begleitet von ein paar Polizisten. »Maske auf, Abstand halten«, hieß es über den Lautsprecher. Wohlgemerkt den der Demonstranten, nicht der Staatsmacht. Kurz zuvor hatte die Regierung eine nächtliche Ausgangssperre erlassen, zusätzlich zu den schon geltenden Kontakt- und Besuchsverboten. Ein paar Linksradikalen war das dann doch ein bisschen zu viel, pflichtschuldig rappelten sie sich auf. Insbesondere störten sie sich daran, dass Viren nur dort kursieren sollen, wo Menschen privat miteinander verkehren, nicht wo sie arbeiten. Zumindest handelte die Regierung so, als wäre dies der Fall.

Die unsinnigen Lockdowns als solche zu kritisieren, war nicht Anliegen der Demonstranten. Dass man damit in falsches Fahrwasser gerate, war wohl die hintergründige Annahme, und so klammerte man sich an die Illusion eines »solidarischen Lockdowns von unten«. Und dann stand man da, in einem menschenleeren dunklen Park, unter sich und doch im Abseits gelandet. Später im Internet würde man wie immer auf den entsprechenden Seiten lesen können, es sei eine »kraftvolle Demo« gewesen. Die Realität war weit dürftiger. Und somit ein symbolisches Bild für die radikale Linke hierzulande.

Wenn die radikale Linke es überhaupt wagte, sich in die politischen Auseinandersetzungen um die Pandemie einzumischen, war das Resultat meist traurig. Weit trauriger jedoch, dass sie den Versuch in weiteren Teilen nicht einmal unternommen hat. Von stayathome bis zu »Wir impfen euch alle!« folgte man dem Konsens der Eliten, wie die Krise zu verwalten sei. Eigene Gedanken zur Situation hatte man nicht beizutragen. Begierig stürzte man sich darauf, dass bei den Protesten gegen die Seuchenpolitik auch Rechte auftauchten, stimmte doch so der moralische Kompass wieder. Es kostete beeindruckend wenig geistigen Aufwand, nun wechselweise die deutsche Romantik oder die NSDAP durch die Straßen der Kleinstädte marschieren zu sehen, nicht aber die Folgen und Verwerfungen aktueller Politik zu erkennen. Und der psychische Profit dessen, die Welt in die Kostüme der eigenen kammerspielartigen Weltanschauung zu packen, war eine ungemeine Entlastung. Vor allem von der Anstrengung der Kritik, von der schwierigen Aufgabe, diese auch dann zu öffentlich zu vertreten, wenn es nicht schon allgemein abgenickt ist.

Die radikale Linke in Westdeutschland hatte sich eigentlich schon überlebt. K-Gruppen, Autonome, Alternative, all das schien schon Geschichte, um dann mit Grenzöffnung und Berliner Republik einen zweiten Frühling zu feiern. Wie sich die westdeutsche Industrie nochmals aufrappeln konnte, auf Kosten der ostdeutschen, so war es auch mit Teilen der radikalen Linken. Mit dem zweifelhaften Erfolg, dass nun noch das hinterletzte alternative Zentrum von jenen Märchenonkeln heimgesucht wurde, die ihre mit einem Kessel Buntes aus Adorno und Marcuse garnierten moralischen Plattitüden somit bis in den letzten Winkel der Republik verbreiten konnten. Und die nun ironischerweise - nachdem sie jahrzehntelang pausenlos gegen Staat, Kapital und Rauchverbot angequarzt haben - vom verteufelten Leviathan durch strikt durchgesetzte Kontaktverbote gerettet werden wollten, weil »vorerkrankt«. Statt Analysen wurden radikale Posen und gute Botschaften verbreitet. In einer schönen Formulierung hat die australische Autorin McKenzie Wark über solche Leute gesagt, dass sie gerne glauben wollen, dass sie mit der Religion des Kapitalismus gebrochen haben, aber aus diesem Bruch selbst eine Religion gemacht haben.

Die Gründung der Interventionistischen Linken (IL) vor fast 20 Jahren war bereits der Versuch, auf die Krise der radikalen Linken zu reagieren. Nach K-Gruppen und Autonomen wollte man sich einerseits neu organisieren und andererseits über die Szene hinaus in die Hegemoniekämpfe der Zeit wirken. Postautonom hieß das Schlagwort, das sich inzwischen auch in den Berichten des Inlandsgeheimdienstes findet. Vom G8-Gipfel in Heiligendamm über »Castor schottern« bis »Ende Gelände« reicht das Kampagnenportfolio der Organisation inzwischen. Sie hat Bekanntheit erlangt, vielleicht sogar eine gewisse Strahlkraft. Sie steht für Pragmatismus; hier wird effizient Politik gemacht, keine sektiererischen Spielchen, wie sie sonst in der Linken nicht unüblich sind, so das Versprechen. Professionell, praktisch, politisch.

Das bringt freilich Probleme mit sich: Insbesondere in Berlin wird schon länger gewitzelt, dass zu einem Studium der Politikwissenschaften ein oder zwei Semester IL als Praktikum dazugehören: Pflichtmodul Campaigning, Organizing und Teammanagement. Die IL ist nicht nur eine Gruppe auf dem Politikmarkt, sie bildet für ihn aus: für NGOs, Stiftungen, Gewerkschaften, Parteien. Und bei Deutsche Wohnen & Co. enteignen war gelegentlich zu hören, dass die akademische Jugend manchmal mehr Fluch als Segen gewesen sei.

Wohin die IL steuert, ist länger schon umstritten. Verschiedene Ortsgruppen haben in den vergangenen Monaten ihren Austritt aus der Organisation erklärt oder wurden gar ausgeschlossen. »Wir sind unzufrieden mit der Politik, die wir selbst seit Jahren machen«, heißt es in einer Erklärung. Bemängelt wird unter anderem, dass der linksradikale Habitus mit einer sozialdemokratischen Politik verknüpft werde, dass man einer neoliberalen Subjektivität Vorschub leiste oder dass Politik durch Moral ersetzt wurde.

Auch das Verhalten in der Pandemie wird als Versagen bezeichnet. Im vergangenen Sommer versammelten sich die Unzufriedenen, um die Gründe zu diskutieren. Nun ist dieser Tage unter dem Titel »Die IL läuft Gefahr, Geschichte geworden zu sein« eine Dokumentation der Tagung erschienen. Sie will der Auftakt zu einer Diskussion nicht allein über die Krise der IL, sondern die der radikalen Linken sein. Die abgedruckten Beiträge können diesen Anspruch durchaus einlösen. Sie kreisen darum, dass wir zurzeit den Aufstieg eines neuen Akkumulationsregimes erleben, das auch eine neue Form der Subjektivität mit sich bringt: Kapitalismus nun in Grün und Digital, Herrschaft mit der freundlichen Botschaft »We care for you« und ein neues moralisch-rosa Biedermeier.

Eine These ist, dass die politische Seuchenbekämpfung diesem neuen Akkumulationsregime zum Durchbruch verholfen hat - unter tätiger Mithilfe der Linken. Deswegen schwingt in den Beiträgen die Frage, wo eigentlich die radikale Linke die vergangenen zwei Jahre war, fast immer mit. Zugespitzt wird sie dahingehend, ob man eigentlich noch ein politisches Begehren teile - oder nur noch gelegentlich den Bildschirm, um die nächste Kampagne anzuleiern, das nächste Pad zu füllen, die nächste Arbeitsgruppe zu gründen, die dann wieder drei weitere Auslagerungen hervorbringt. Wo ist die Negativität, wo die Suche nach dem Antagonismus?

Organisationen des politischen Lebens reagieren in der Regel selten besonders empfänglich für Selbstkritik. Es läuft ihrer inneren Funktionalität entgegen. Und doch bestehen die Beiträge des Bandes darauf. Damit knüpfen sie interessanterweise an Georg Lukács’ vor knapp 100 Jahren erschienene Aufsatzsammlung »Geschichte und Klassenbewusstsein« an. Dieser hielt fest, dass die Aufgabe eine negative sei. Man erkenne nämlich, dass die eigenen Beziehungen zwangsläufig warenförmig seien, und beginne, diese bewusst umzugestalten. Diese Form der Selbstkritik und Selbstnegation nannte er Klassenbewusstsein. Und er zeigte schon damals, dass das mit den Mitteln der Identitätspolitik nicht zu machen ist.

Unter radikal wird inzwischen weniger das widerspruchsvolle Begehren sozialer Freiheit verstanden, firmiert unter demselben Label doch vor allem, Einzelne in den sozialen Medien vor versammelter Horde und unter deren Applaus in die Mangel zu nehmen. Die Aufpasser der Szene, die immer ihre »Bauschmerzen«, ihre »Probleme« und »eine andere Kritik« haben, achten darauf, dass kein Gedanke die Public Relations stört - die Suche nach einem wahren Wort über unsere Situation stört nur, wo ein politisches Kapital verwaltet wird, sei’s auch noch so klein.

Doch Radikalität dürfte nicht darin liegen, ob sie möglichst viel mediale Aufmerksamkeit generiert oder andauernd neue Kampagnen hervorbringt. Auch nicht darin, dass es gelegentlich mal knallt. Inzwischen scheint selbst die Wiederkehr von Hungeraufständen und Elendsrevolten in den westlichen Zentren - oder dem, was davon noch übrig bleiben wird - nicht mehr ausgeschlossen. Die Radikalität dürfte sich daran bemessen, ob sie einen gesellschaftlichen Gegenentwurf vorzuweisen hat, der die eigene Veränderung einbezieht, und nicht nur über die sozial Abgehängten wacht, mit denen man das eigene Fortkommen legitimiert.

Die IL läuft Gefahr, Geschichte geworden zu sein. Selbstverlag, 104 S., br., ohne Preis. Bestellung und Kontakt über: tagung_punkt@riseup.net

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