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Arbeiten gegen den Lohnverfall

Die Reallöhne sind im vergangenen Jahr gesunken. Wie Gewerkschaften nun auf den starken Preisanstieg reagieren

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 7 Min.
Bereits im vergangenen Jahr sind die realen Bruttostundenlöhne im Durchschnitt um 1,3 Prozent gesunken, zeigen Daten des Statistischen Bundesamts.
Bereits im vergangenen Jahr sind die realen Bruttostundenlöhne im Durchschnitt um 1,3 Prozent gesunken, zeigen Daten des Statistischen Bundesamts.

Was tun Gewerkschaften, wenn sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Schnitt Lohnzuschläge von 2,4 Prozent vereinbart haben, und nun steigen die Preise so stark, dass sie mehr als das Doppelte durchsetzen müssten, damit die Gehälter wenigstens nicht an Wert verlieren?

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Bereits im vergangenen Jahr sind die realen Stundenlöhne im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt gesunken. Das zeigen Daten, die das Statistische Bundesamt »nd.DieWoche« bereitgestellt hat. Inzwischen ist die Inflation auf 7,3 Prozent nach oben geschossen, im gesamten laufenden Jahr dürfte sie bei rund sechs Prozent liegen, prognostizieren die Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrer jüngsten Gemeinschaftsdiagnose.

Das ist vor allem für Menschen mit geringen und mittleren Einkünften ein Problem, erst recht, weil sich ausgerechnet Lebensmittel, Strom und Heizung extrem verteuert haben. Da die Ausgaben für solche Güter des Grundbedarfs bei armen Menschen einen großen Anteil ausmachen, liegt die tatsächliche aktuelle Inflationsrate insbesondere für Familien mit niedrigem Einkommen bei sogar 7,9 Prozent, berichtete diese Woche das Wirtschaftsforschungsinstitut IMK. Wie reagieren die Gewerkschaften? Versuchen sie, den starken Preisanstieg durch ebenso starke Lohnzuwächse auszugleichen - zumindest für Menschen mit niedrigen Löhnen?

Erste große Tarifrunde: »Brückenlösung« vereinbart

»Wir wollen für unsere Mitglieder ein Bollwerk gegen die Inflation errichten«, sagte Ralf Sikorski, Vizechef der IG BCE Ende Februar zum Auftakt der ersten großen Tarifrunde in diesem Jahr, in der über die Gehälter der Beschäftigten in der Chemie- und Pharmaindustrie verhandelt wurde. »Deshalb steht außer Frage, dass am Ende dieser Tarifrunde bei Entgelten und Ausbildungsvergütungen ein Plus oberhalb der Teuerungsrate stehen muss«, betonte Sikorski. Kurz zuvor hatte das Statistische Bundesamt einen Preisanstieg von 4,9 Prozent bekanntgegeben. Im Laufe der Verhandlungen stieg die Inflationsrate jedoch auf 7,3 Prozent, ein Gehaltszuwachs oberhalb der Teuerungsrate durchzusetzen, wurde immer schwieriger. So vereinbarten die IG BCE und der Arbeitgeberverband Anfang April eine »Brückenlösung«: Die Beschäftigten erhalten einmalig 1400 Euro für sieben Monate - im Oktober soll dann weiterverhandelt werden.

Diese 1400 Euro entsprechen einer Lohnerhöhung von durchschnittlich 5,3 Prozent, wenn man sie auf die Gehaltssumme von sieben Monaten bezieht, erläutert ein Gewerkschaftssprecher. Das ist gemessen an durchschnittlichen Abschlüssen ein relativ hoher Zuschlag, die Inflationsrate wird damit aber wohl nicht ganz ausgeglichen. Sollte es dieses Jahr kein zusätzliches Geld geben, sinken die realen Tariflöhne deutlich. Denn aufs ganze Jahr gerechnet entspricht der Festbetrag lediglich einem Plus von 3,1 Prozent.

Endgültige Tarifabschlüsse gibt es bisher nur in wenigen kleinen Branchen, etwa dem Versicherungsgewerbe, wo eine Pauschalzahlung von lediglich 550 Euro vereinbart wurde, eine dauerhafte Lohnerhöhung von drei Prozent gibt es erst ab September.

»Explodierende Preise mit Tarifpolitik nicht mehr aufzufangen«

Die großen Gewerkschaften IG Metall und Verdi sagen mehr oder weniger deutlich, dass die derzeitige Inflation nicht allein durch höhere Löhne auszugleichen ist. »Die aktuell explodierenden Preise mit Steigerungsraten von 7,3 Prozent sind mit Tarifpolitik nicht mehr aufzufangen«, heißt es etwa auf der Internetseite der IG Metall mit Blick auf die Stahl-Tarifrunde, für die die Gewerkschaft am kommenden Dienstag ihre Lohnforderung bekannt gibt.

Generell lege die IG Metall bei ihren Lohnforderungen wie bisher neben einer Produktivitäts- und Umverteilungskomponente die Zielinflationsrate der EZB von rund zwei Prozent zugrunde, sagte eine Sprecherin auf Anfrage und betonte, es wäre nicht konsistent, jetzt etwas anderes zu tun.

Das lässt sich volkswirtschaftlich begründen: Wenn der tatsächliche Preisanstieg unter zwei Prozent liegt, trägt demnach ein höheres Lohnwachstum dazu bei, der EZB-Zielmarke näher zu kommen. Wenn die Inflation wie jetzt sehr hoch ist, dämpfen moderate Zuschläge den Preisanstieg.

Verdi orientiert sich bei ihren Lohnforderungen hingegen nicht an der Zielinflationsrate, sagte der Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung, Norbert Reuter, »nd.DieWoche«. »Das wäre den Beschäftigten nicht zu vermitteln.« Vermutlich würden die anstehenden Forderungen in der Größenordnung der tatsächlichen Inflationsrate liegen, so Reuter, wobei die Entscheidung Ehrenamtliche wie Betriebs- und Personalräte in den jeweiligen Tarifkommissionen treffen würden. »Unser Ziel ist es, einen Reallohnausgleich hinzubekommen.«

Sind Beschäftigte zum Erzwingungsstreik bereit?

Beschäfttige Ob und inwieweit dies gelingt, hänge auch davon ab, ob Beschäftigte im Zweifel zum Erzwingungsstreik bereit seien. Zudem spiele eine Rolle, für welche Unternehmen und Branchen verhandelt wird. So florierten die Geschäfte bei der Post, die Luftfahrt stecke hingegen in Schwierigkeiten. Generell rechnet Reuter damit, dass »der Widerstand der Unternehmen groß sein wird«.

Wenn im Durchschnitt am Ende ein Lohnanstieg um die vier Prozent durchgesetzt würde, wäre das ein gutes Ergebnis, so Reuter.

Aber warum fordern Gewerkschaften nicht vollen Inflationsausgleich? Schließlich sind es Unternehmen, die die Preise erhöht haben. Dann können sie doch auch die Gehälter entsprechend erhöhen. Im Prinzip stimmt Reuter dem zu. Allerdings belaste die Inflation auch Unternehmen, weil viele deutlich höhere Preise für Importgüter zahlen müssen. Die höheren Kosten könnten Firmen nicht unbedingt über entsprechende Preisaufschläge an ihre Kunden weiterreichen. Die Bedingungen in den Branchen seien eben unterschiedlich, so Reuter. Insofern sei es unrealistisch, immer und überall einen vollen Ausgleich des Preisanstiegs von den Firmen zu erwarten.

Auch deshalb halten es die Gewerkschaften für unerlässlich, dass die Politik angesichts der hohen Inflationsrate dabei hilft, die Einkommen der Menschen zu stabilisieren. Darum begrüßt Verdi das geplante Entlastungspaket der Bundesregierung, nach dem beispielsweise Erwerbstätige eine Energiepreispauschale von 300 Euro erhalten. Diese muss versteuert werden, was dazu führt, dass Besserverdienende netto am Ende weniger erhalten als Geringverdienende. Diese Hilfen müssten je nach Lage der Dinge gegebenenfalls nachgebessert werden, so Verdi.

Ausgleich durch Festbeträge

Reuter geht davon aus, dass seine Gewerkschaft in den Tarifrunden versucht, insbesondere für Beschäftigte in den unteren Entgeltgruppen einen Reallohnausgleich hinzubekommen, etwa indem Festbeträge durchgesetzt werden. Dadurch steigen niedrige Gehälter prozentual stärker als hohe. Genau diesen Effekt hat die Einmalzahlung von 1400 Euro für Chemie-Beschäftigte. Laut IG BCE bedeutet dies für Menschen in der niedrigsten Lohngruppe ein Gehaltszuwachs von mehr als sieben Prozent.

Die Gewerkschaften haben für viele Beschäftigte die Tarifgehälter für die kommenden Monate lange vor dem starken Preisanstieg vereinbart. Die beiden mit Abstand größten Tarifrunden für die Metall- und Elektroindustrie und den öffentlichen Dienst beginnen erst im Herbst und Winter. So rechnen die Forschungsinstitute in ihrer Gemeinschaftsdiagnose damit, dass die tatsächlichen Stundenlöhne über alle Branchen hinweg im laufenden Jahr nur um 2,9 Prozent steigen. Wenn die Inflationsrate wie prognostiziert bei 6,1 Prozent liegt, bedeutet dies ein Rückgang der realen Stundenlöhne um 3,2 Prozent. Erst fürs kommende Jahr erwarten die Institute Zuwächse von 3,9 Prozent - und damit wieder steigende Realeinkommen.

Bei Menschen, die lediglich den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, sieht es anders aus: Wenn die geplante Erhöhung auf 12 Euro im Herbst kommt, steigt der Mindestlohn dieses Jahr um rund zehn Prozent - und damit wohl stärker als die Preise.

Wer soll Zurückhaltung üben: Beschäftigte oder Unternehmen?

Mit Blick auf die Warnungen vor einer Lohn-Preis-Spirale stellt Reuter fest: »Eine solche Spirale kommt nur in Gang, wenn Gewerkschaften höhere Löhne und Unternehmen höhere Preise durchsetzen. Dennoch werden fast immer nur Beschäftigte und fast nie Firmen ermahnt, Zurückhaltung zu üben.« Dabei seien bereits 2021 die Reallöhne gesunken. »Sollte es zu weiter steigenden Inflationsraten kommen und künftig tatsächlich eine Preis-Lohn-Spirale drohen, wären zunächst einmal die Unternehmen dran, sich bei Preiserhöhungen zurückzuhalten.«

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