- Berlin
- Krieg in der Ukraine
Kunst als Waffe
Die Proteste des Berliner Vereins Vitsche gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erfahren immer stärkere Resonanz
Weiße Räume mit großen, fast bodentiefen Fenstern, zahlreiche Schreibtische, Bildschirme, eine Küche mit Kühlschrank voll mit Mate-Getränken: Das Büro des ukrainischen Vereins Vitsche in Berlin-Friedrichshain sieht aus wie das einer hippen Start-up-Firma. Und tatsächlich war es eine IT-Firma, die Vitsche ihre aktuell leer stehenden Büroflächen zur Verfügung gestellt hat. Auch die Mate ist eine Spende.
In den vergangenen Wochen seit dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine hat sich die Gruppe im Schnelldurchlauf professionalisiert. »Vitsche« ist ein altukrainisches Wort, das ganz simpel für »politische Versammlung« steht. Noch im Februar, als »nd« diese Versammlung ein erstes Mal besucht hatte, handelte es sich eher um einen losen Zusammenschluss junger Ukrainer*innen, die sich in einer Kreuzberger Bar kennengelernt hatten. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang Februar, waren sie vor allen Dingen wütend, dass sich die deutsche Öffentlichkeit nur um die Befindlichkeiten des russischen Präsidenten Wladimir Putin und die Zukunft der Pipeline Nord Stream 2 sorgte - nicht aber um die Menschen in der Ukraine. Angesichts der damals drohenden russischen Invasion hatten sie sich zusammengeschlossen, um Proteste zu organisieren.
Zwei Monate später ist Vitsche ein eingetragener Verein mit Organigramm und eigener Website - und zum medialen Gesicht der ukrainischen Community in Berlin geworden. Mittlerweile zählt man rund 50 aktive Mitglieder. Dazu kommen etliche Freiwillige, die den Verein immer mal wieder unterstützen. Sie alle arbeiten unbezahlt bei Vitsche, teilweise bis zu 14 Stunden am Tag. Einige von ihnen haben ihre Jobs gekündigt, erzählen Anton und Masha. Beide sind von Anfang an dabei.
»In der ersten Zeit haben wir alle unter Schock gearbeitet, pausenlos«, sagt Anton. Humanitäre Hilfe, Spendenaktionen, Demonstrationen, vor allem aber Kunstaktionen, Kulturveranstaltungen - all das gehöre nun zum Repertoire von Vitsche, berichtet der 28-jährige Theater- und Filmregisseur. Die erklärte Mission: Die Ukraine als eigenständigen politischen Akteur im deutschen Diskurs zu etablieren.
»In den letzten 30 Jahren wurde die Ukraine nie als eigenes Subjekt gesehen. Im internationalen Diskurs wie auch in der Politik wurde die Ukraine immer mit entweder russischsprachigen, postsowjetischen oder slawischen Ländern zusammengefasst«, meint Anton. Er ist im ostukrainischen Donezk geboren und aufgewachsen und lebt seit 2014 in Berlin. Wie beim ersten Treffen mit »nd« im Februar ärgert er sich nicht zuletzt über die Darstellung seines Heimatlandes: »Wenn es um die Ukraine geht, wird meist über Russland gesprochen. Das muss sich ändern.«
Vitsche hat in der kurzen Zeit seit der Gründung diverse Abteilungen aufgebaut. So gibt es nun ein Kommunikationsressort, zuständig für das Bespielen der sozialen Medien, die Öffentlichkeitsarbeit und strategische Fragen. Auf Instagram etwa veröffentlicht Vitsche am laufenden Band hoch professionelle Videos mit aktuellen Forderungen oder Aufrufen zu Aktionen und Demonstrationen. Hinzu kommt das sogenannte Awareness-Team, eine Anlaufstelle für Geflüchtete aus der Ukraine, die in Berlin Diskriminierung erfahren. Schließlich gibt es noch eine Kultur- und eine politische Abteilung.
Um die politische Außenwirkung zu verstärken, hat sich der Verein mit anderen Gruppen zum bundesweiten Netzwerk Allianz Ukrainischer Organisationen zusammengeschlossen, der als Dachverband für verschiedene ukrainische Akteur*innen in Deutschland fungiert. So will man erreichen, auch im deutschen Politikbetrieb ernst genommen zu werden und Gehör zu finden.
Zu Beginn des Krieges hatte Vitsche - unter anderem zusammen mit dem polnischen Pilecki-Institut - zahlreiche Spendenaktionen initiiert. Mitglieder des Vereins war am Hauptbahnhof präsent und organisierten den Transport von Hilfsgütern in die Ukraine.
Mittlerweile will sich der Verein vor allem auf die Kulturarbeit konzentrieren. Ein naheliegender Schritt. Schließlich kommen viele Aktivist*innen von Vitsche selbst aus dem kreativen Bereich. Zwei Kulturveranstaltungen haben sie in einem weiteren Berliner Büro bereits auf die Beine gestellt. Dabei handelte es sich in erster Linie um Gesprächsformate für ukrainische Kunst- und Kulturschaffende, bei denen sie sich über ihre Bedürfnisse, Wünsche und Sorgen austauschten. Denn Kunst sei »gerade in Berlin eines der wichtigsten politischen Mittel«, sagt Anton. Der Plan sei, ukrainische Künstler*innen zu vernetzen, Verbindungen zu Institutionen herzustellen, Räume für die künstlerische Praxis zu organisieren.
Die Arbeit der Gruppe ist alles andere als leicht. So sehen sich insbesondere jene Aktivist*innen, die schon einmal vor einer Fernsehkamera standen, mit massiven Einschüchterungsversuchen konfrontiert. Ein Mitglied berichtet davon, bereits mehrfach auf der Straße von Wildfremden auf Russisch bedroht worden zu sein. Auch von Hackerangriffen auf ihre Handys erzählen die Aktivist*innen. Teilweise seien Nachrichten von ihren Handys verschickt worden, die sie nicht selbst geschrieben hatten. Vor einigen Wochen wurde bei einem der Aktivisten zu Hause eingebrochen. Nichts war gestohlen, stattdessen hatten die Täter weißes Pulver verstreut, Kassenbons aus dem Mülleimer rausgekramt, zerknüllt und in der Wohnung verteilt. Das Landeskriminalamt ermittelt.
Doch auch in Kontexten, die der Ukraine zugewandt sind, sieht sich die Gruppe mit Problemen konfrontiert. Im ersten Monat nach Beginn des Krieges wurden zahlreiche Friedensdemonstrationen von großen Bündnissen organisiert. Ukrainische Communitys seien dabei kaum einbezogen worden. »Es wirkte, als wüssten die Leute gar nicht, dass Ukrainer*innen hier existieren«, sagt Anton.
Vitsche wurde es sogar mehrfach explizit verwehrt, auf diesen Demonstrationen zu sprechen, weil die Gruppe Waffenlieferungen an die Ukraine sowie ein vollständiges Energie-Embargo gegen Russland fordert. Solche Positionen würden die Leute nur abschrecken, lautete die wiederkehrende Sorge der Veranstalter*innen. Außerdem würden Forderungen nach Waffen dem Konzept von Friedensdemonstrationen widersprechen. Einmal wurde die Gruppe mit der Begründung abgelehnt, es seien doch bereits fünf Redner*innen »aus dem postsowjetischen Raum« eingeladen. Und irgendwann sei ja mal gut.
Dem liege ein völlig falsches Verständnis von Pazifismus zugrunde, finden Anton und Masha. »In dem Moment, in dem deutsche Demo-Veranstalter*innen uns ausladen, weil sie unsere Forderungen nicht gutheißen, reproduzieren sie imperialistische Logiken. Sie hören uns nicht zu, sondern meinen zu wissen, was besser für uns ist. Ihre Meinung zählt mehr - das ist keine Solidarität«, sagt Masha. Die Argumentation, Waffen würden nur noch mehr Krieg produzieren, greife bei einem Angriffskrieg nicht. Keine Waffen zu liefern, bedeute in der Praxis, Ukrainer*innen sterben zu lassen, so die Mittzwanzigerin mit ukrainischer Migrationsgeschichte. Sie selbst ist in Ostdeutschland aufgewachsen.
»Viele deutsche Linke wähnen sich moralisch überlegen«, sagt Masha. Sie hätten ein fest gefügtes Weltbild und würden sich weigern, daran zu rütteln, weiterzudenken, »zu dekolonialisieren«. Das Grundproblem sei, dass es hart für Deutsche sei, zu akzeptieren, »dass der weiße, blonde, blauäugige Iwanuschka jemanden töten kann«. So habe es vor Kurzem ein Vitsche-Mitglied ihm gegenüber formuliert, berichtet Anton. Auf politischer Ebene kämen die bekannten, »teils korrupten Verbindungen nach Russland« hinzu.
Auf der anderen Seite wächst der Rückhalt für Vitsche. Am Osterwochenende hatte der Verein zusammen mit syrischen Aktivist*innen aus dem Umfeld der Initiative Adopt a Revolution, belarussischen und georgischen Gruppen den »Alternativen Ostermarsch« auf dem Bebelplatz in Mitte organisiert. Immer mehr Menschen kommen zu den Demonstrationen und Protestkundgebungen. Anton sagt: »Mittlerweile spüren wir viel Unterstützung von den Menschen hier. Unser größtes Problem sind diejenigen, die Macht haben.«
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