Die neuen Sphären des Metal

Plattenbau. Die CDs der Woche: »Immutable« von Meshuggah »Timewave Zero« von Blood Incantaion

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.

Mathematik und Metal - die enge Verbindung zwischen beidem wird erst dann offensichtlich, wenn die Musik die gängigen Taktschemata vermeidet. Michael Pilz hat das musikalische Prinzip der schwedischen Band Meshuggah so beschrieben: »Für Meshuggah ist Musik wieder eine der sieben freien Künste, neben Algebra und Geometrie. (…) Einer zählt bis drei, einer bis vier, einer bis sieben und einer bis zwölf. Bei 84 treffen sie sich.«

Heißt auch: Bei der Musik von Meshuggah geht es zuallererst um Rhythmus. Oder besser um Rhythmen: wie sie sich gegen- und ineinanderschieben und wie man Komplexität und Massivität gleichzeitig erzeugen kann. Mit Jazz oder Progressive Metal hat das eigentlich wenig zu tun, das sind halt die Begriffe, die schnell zur Hand sind, wenn die Musik mal komplizierter wird. Sondern eben mit Mathematik: Meshuggah spielen Stücke, die eher errechnet als komponiert worden sind.

Die 13 Stücke auf dem neuen Album »Immutable« wirken trotzdem nicht ausgedacht oder gar leblos. Wenn zum Beispiel am Ende von »Phantoms« die Gitarre zu hakeligem Schlagzeug Zeitlupensirenen imitiert, bollert der Bass so dick über alles drüber, dass man mit dem Kopf sehr heftig nicken muss. Überhaupt die Gitarren. Die sind bei Meshuggah keine Melodie-, sondern ebenfalls Rhythmusinstrumente, die ständig Unerwartetes produzieren. Und wenn mal ein konventionell gestaltetes Riff gespielt wird, in »Kaleidoscope« etwa, dann wird so lange darauf rumgeritten, dass das eigentlich Zugängliche mit einem Mal sehr abstrakt wird. So finden musikalische Gewalt und Verkopftheit auch auf »Immutable« wieder zu einer einvernehmlichen, einander förderlichen Koexistenz.

Die amerikanische Band Blood Incantation arbeitet in anderer Weise daran, Metal in neue Sphären zu überführen. Mit »Hidden History of the Human Race« produzierten Blood Incantation 2019 ein Death-Metal-Album, das die Räudigkeit des Genres mit Versiertheit und wahnwitzigem Ideenreichtum verband und damit an die Großtaten des viel zu früh verstorbenen Chuck Schuldinger und seiner Band Death anschloss.

Nicht zuletzt war die Musik auf eine seltsame Weise psychedelisch; das dunkle Gegröle wirkte hier eher wie Sphärenmusik und gar nicht mehr garstig. Diesen Aspekt haben Blood Incantation auf ihrem neuen Album »Timewave Zero« radikalisiert und als komplett verpilzten Ambient produziert. Die Gitarren wurden, bis auf ein bisschen Gezupfe im Hintergrund, beiseitegelegt. Die Musik hat mit Metal nichts mehr zu tun, sondern erinnert an Tangerine Dream. Alles wabert, fließt und dräut latent unheimlich, immer an der Grenze zum schiefgelaufenen Trip, aber alles in allem doch noch angenehm.

»Timewave Zero« ist eine sehr seltsame Platte, die sich mit sanftem Wumms zwischen alle Stühle setzt. Dass hier eine junge Band das, wofür sie gerade eben noch gehypt wurde, einfach auf Pause stellt und Musik zwischenschiebt, die die eigenen Fans zu einem wahrscheinlich nicht kleinen Teil ratlos zurücklassen wird, das ist an sich schon eine hübsche Geste. Wenn das dann noch so klingt, umso besser.

Die Musik von Meshuggah und Blood Incantation gehört 2022 zum Interessantesten, was man mit Metal machen kann. Beide Alben sind toll, weil man ihnen die Freude am Experiment und an der Erweiterung der eigentlichen Möglichkeiten anhört.

Meshuggah: »Immutable« (Atomic Fire Records/Warner)

Blood Incantaion: »Timewave Zero« (Century Media)

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