Lebenslänglich für Osman Kavala

Türkische Justiz verurteilt den bekannten Kulturförderer und weitere Angeklagte zu langen Haftstrafen

  • Svenja Huck, Istanbul
  • Lesedauer: 4 Min.

Am vergangenen Montag fiel im Istanbuler Çağlayan-Justizpalast das Urteil gegen acht Angeklagte im sogenannten Gezi-Prozess. Unter ihnen ist auch der bereits seit viereinhalb Jahren inhaftierte Kulturförderer Osman Kavala. Während Kavala zu lebenslänglicher Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt wurde, erhielten unter anderem die Architektin Mücella Yapıcı, der Anwalt Can Atalay, der Stadtplaner Tayfun Kahraman und die Filmemacherin Çiğdem Mater jeweils eine 18-jährige Haftstrafe. Ihnen wurde vorgeworfen, im Sommer 2013 während der Istanbuler Gezi-Proteste den Sturz der türkischen Regierung geplant zu haben. Die Haftstrafen wurden unmittelbar nach Urteilsverkündigung mit einem Arrestbeschluss eingeleitet.

Die Entscheidung des Gerichts sorgte für Empörung im Gerichtssaal und darüber hinaus. Im Anschluss an die Presseerklärung vor dem Gericht, in der unter anderem Oppositionspolitiker von der prokurdischen HDP, der kemalistischen CHP und der Arbeiterpartei TİP die Inhaftierung verurteilten, fand eine Mahnwache statt. Daran beteiligten sich mehrere Hundert Menschen, die die politischen Forderungen der Gezi-Proteste verteidigten. Für Dienstagabend rief die Plattform »Taksim Solidarität« zu einer Kundgebung am Taksim-Platz auf.

Bereits im Mai 2020 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt, dass der über 60-jährige Osman Kavala umgehend aus der Haft entlassen werden müsse. Da die Türkei dieses Urteil jedoch nicht umsetzt, droht ihr der Ausschluss aus dem Europarat. Auf das eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren reagierte Präsident Erdoğan mit Desinteresse: »Was der Menschenrechtsgerichtshof, was der Europarat auch sagt, es interessiert uns nicht. Wir erwarten, dass unseren Gerichten Respekt entgegengebracht wird«, so seine Antwort.

Anwältin Evren İşler ging in ihrer Verteidigungsrede darauf ein, dass einer der zuständigen Richter sich bei den Wahlen 2018 als Kandidat für die AKP hatte aufstellen lassen und offen das von Erdoğan vorgeschlagene Präsidialsystem unterstützt. Gleichzeitig nimmt Erdoğan im Gezi-Prozess jedoch die Rolle des Geschädigten ein. Kavalas Anwalt Köksal Bayraktar sagte: »Ein Richter, dessen Verbindungen zu einem politischen Anführer ganz offen sind, darf nicht in solch einer entscheidenden Position sein. Das ist nichts, was man einfach so verdecken kann.« Der Antrag der Anwälte auf Ausschluss des Richters vom Gezi-Prozess wurde vom Gericht abgelehnt.

Die Proteste im Gezi-Park hatten Ende Mai 2013 mit einer spontanen Mobilisierung gegen die Fällung von Bäumen im Park begonnen, die einem Einkaufszentrum weichen sollten. Innerhalb kurzer Zeit versammelten sich Zehntausende auf dem anliegenden Taksim-Platz und protestierten wochenlang nicht nur für den Erhalt des Parks, sondern gegen die AKP-Regierung und Ministerpräsident Erdoğan. Bei den darauffolgenden Angriffen der Polizei wurden acht Menschen getötet, der Jüngste von ihnen war der 15-jährige Berkin Elvan.

Reaktionen auf die Verurteilungen kamen unter anderem aus Deutschland, von Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen), die in einem Statement erklärte, sie erwarte die unverzügliche Freilassung Kavalas. Dazu habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei verbindlich verpflichtet. Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, bezeichnete das Urteil als herben Schlag für den Kulturaustausch zwischen der Türkei und Deutschland. Hauptadressat sei neben Kavala auch die türkische Zivilgesellschaft, die massive dringend Unterstützung nötig habe. Das Urteil sei offenkundig politisch motiviert und eine Mischung aus persönlicher Rache an Osman Kavala und einer Kampfansage an jegliche Formen einer möglichen Kultur der Demokratie in der Türkei. Die Anadolu-Kültür-Stiftung, die von Kavala gegründet wurde, führt zahlreiche Projekte im kulturellen Bereich durch und kooperiert dabei auch mit deutschen Institutionen wie dem Goethe-Institut und der Heinrich-Böll-Stiftung.

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Die Gezi-Proteste haben eine ganze Generation politisiert. Diese und die ihr folgende Generation sind nun von der Wirtschaftskrise betroffen und haben Angst vor der Zukunft ihres Landes. Doch nicht alle jungen Leute verlassen die Türkei, sondern gerade die verarmten Bevölkerungsschichten tragen ihren Unmut gegen die AKP-Regierung zunehmend auf die Straße.

Die Urteile im Gezi-Prozess sind eine Drohgebärde gegen genau diese Oppositionellen. Die Antwort darauf gab der verurteilte Anwalt Can Atalay unmittelbar nach der Urteilsverkündigung im Gerichtssaal: »Lasst euch gesagt sein, wir werden uns dieser Despotie nicht beugen, sondern dagegen kämpfen!«

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