Hirn-Yoga mit Heidi Klum

Die Medien berichten über Nonsens, so dass wichtige Nachrichten unerwähnt bleiben. Diese Marktlogik der Medienbranche ist riskant, meint Sheila Mysorekar

Es gibt Dinge, die sich gegen meinen Willen in mein Hirn gebrannt haben: Das Foto des englischen Prinzen Andrew, mit einem Arm um die Taille einer minderjährigen Blondine, dabei in die Kamera grinsend. Oder das Muah-Muah-Geräusch, wenn Heidi Klum Luftküsschen verteilt. Der süffisant-arrogant-überhebliche Gesichtsausdruck von Friedrich Merz, wenn er bei Talkshows eloquente Frauen betrachtet. Oder die Liste der Influencerinnen, die der Fußballer Mats Hummels angeblich gerade vögelt. Alles Dinge, die ich nie erfahren wollte. Es gibt ein Areal in meinem Gedächtnis, wo all diese überflüssige Information abgespeichert ist. Leider. Ich möchte keinen Restmüll-Bereich in meinem Gehirn.

Manchen Meldungen mit geringem Nachrichtenwert, die mit einer umso höheren Frequenz in unseren Feed gespült werden, können wir einfach nicht ausweichen. Ich bin gar nicht auf Instagram, aber trotzdem haben sich Sophia Thomallas Tattoos in mein Bewusstsein geschlichen. Wer ist daran schuld, möchte ich gerne mal wissen?!

Sheila Mysorekar
Sheila Mysorekar ist Journalistin und war langjährige Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Heute ist sie Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem bundesweiten Netzwerk aus rund 170 postmigrantischen Organisationen. Für „nd“ schreibt sie die monatliche Medienkolumne „Schwarz auf Weiß“.

Wir erfahren alles über eine Ohrfeige, die der US-amerikanische Schauspieler Will Smith bei der Oscar-Verleihung einem Comedian gegeben hat. Und dann noch alles über eine weitere Ohrfeige, die der Möchtegern-Comedian Oliver Pocher von irgendwem bekommen hat, sicherlich verdient. Aber mal ernsthaft: Interessiert das irgendwen außer Oliver Pocher selbst?

Es gibt Skandale, die wesentlich größer sind als Ohrfeigen von und für Prominente: Zum Beispiel die Tatsache, dass die FDP immer noch verhindert, dass auf deutschen Autobahnen Tempo 130 eingeführt wird. Ein Skandal ist auch, dass der jüngst veröffentlichte Bericht des Weltklimarats IPCC mehr oder weniger totgeschwiegen wird. Der IPCC sagt da in aller Deutlichkeit, dass es nur noch einen »begrenzten Zeitraum« gäbe, in dem wir den Planeten retten können. Wo sind die Schlagzeilen? Die Breaking News? Die Talkshows? Die täglichen Updates? Die Insta-Stories? Oder ist diese Nachricht so niederschmetternd, dass man sie lieber in die Rubrik »Vermischtes« zu den Katzenvideos verschiebt, damit das Publikum sich nicht erschrickt?

Viele schwerwiegende Entwicklungen werden von der deutschen Presse schlicht ignoriert, weil sie sich nicht in der unmittelbaren geografischen Nachbarschaft abspielen.
Hat irgendwer mitgekriegt, dass sich die größte Demokratie der Welt langsam, aber sicher in einen faschistischen Staat verwandelt? Die Rede ist hier nicht von den USA, obwohl es auch dort aussieht, als würde Donald Trump bei den nächsten Wahlen wieder antreten, und dann gute Nacht. Aber nein, ich meine Indien. Premierminister Narendra Modi gehört einer radikalen Hindupartei an, die seit Jahrzehnten zielstrebig daran arbeitet, das Land in einen hinduistischen Gottesstaat zu verwandeln. Das Schlagwort heißt »Hindutva«, autoritärer Hindu-Nationalismus. Fanatische Politiker rufen öffentlich dazu auf, Muslime »auszumerzen«. Radikal-hinduistische Mobs drangsalieren muslimische Frauen, und Sicherheitsbehörden bedrohen kritische Journalist*innen. Hindutva-Schlägertrupps prügeln Dalits – früher als »Unberührbare« geschmäht – auf den Straßen zu Tode. Gesetze werden dahingehend geändert, religiöse Minderheiten zu benachteiligen. Lauter Schritte hin zu einem faschistischen Hindu-Staat. Und die deutschen Medien? Sie freuen sich darüber, dass Indiens Wirtschaft so schön brummt - so etwa die »Welt«.

Oder, ganz andere Baustelle: Wer außer Meteorolog*innen interessiert sich dafür, dass sowohl in der Arktis als auch der Antarktis in den vergangenen Wochen die Temperaturen um 30 bis 40 Grad Celsius höher lagen als üblich? Bitte kurz mal innehalten und überlegen, was mit uns wäre, wenn das hier in unseren Breiten passieren würde: Heute haben wir in Köln 18 Grad. Plus 40, das wären 58 Grad. Meine Balkonpflanzen wären dann wohl hinüber. Und nicht nur die.

Liebe Kolleg*innen aus der Medienbranche, könnt ihr bitte diese Zahlen allen Politiker*innen vorhalten? Und euch nicht mit Plattitüden abspeisen lassen?

Natürlich brauchen wir alle Ablenkung und Unterhaltung. Nach den Nachrichten über den Ukraine-Krieg und die Pandemie muss ich auch erst mal Rezepte für das Brotbacken googeln; dabei backe ich gar kein Brot. Aber Rezepte lenken prima ab. Auch Heidi Klums Model-Show kann als Hirn-Yoga entspannen: Wenn ich »Germany's Next Topmodel« gucke, sinkt meine Hirnaktivität umgehend gen null, und ich schlafe sofort ein. Absolut meditativ.

Doch die wirklich wichtigen Themen dürfen dabei nicht zu kurz kommen. Wir können uns nicht mehr den Luxus leisten, Druckerschwärze und Sendezeit für Schwachsinn zu verschwenden. Es geht um unser Überleben, als Antifaschist*innen und als Menschheit und als Planet. Die Erderhitzung ist so dramatisch, wie sie in Millionen Jahren nicht war. Liebe Redaktionsleitungen: Vielleicht sind Zuschauermenge und Klickzahlen gar nicht so wichtig. Gebt uns die notwendigen Informationen, um uns zu retten.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -