- Berlin
- Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine
Willkommen im Berliner Schulalltag
Bildungssenatorin Busse fordert bei einem Besuch einer ukrainischen Integrationsklasse mehr Hilfe vom Bund
Yehor wirkt leicht verstört, als am Donnerstagvormittag Berlins Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) und ihr Tross aus Mitarbeitern ihrer Verwaltung nebst Journalisten in das für diesen Zweck durchaus beengte Klassenzimmer der Hans-Böckler-Schule in Kreuzberg rauscht. »Ich weiß nicht, das ist seltsam«, sagt der 17-Jährige zu »nd« über den Besuch der ihm völlig unbekannten Politikerin, die sich bei ihm und seinen Mitschülern danach erkundigt, wo sie herkommen, wo sie wohnen, ob sie bereits Freunde seien.
Bis Februar hatte Yehor an einer Berufsschule im nordukrainischen Tschernihiw eine Ausbildung zum Automechaniker gemacht. Dann überfielen die russischen Truppen die Ukraine - und Yehors Mutter packte ihre Söhne und flüchtete. Sie kamen bis Berlin, wo Yehor nun seit Montag wieder die Schulbank drückt. Zusammen mit 14 anderen Jugendlichen aus der Ukraine besucht er die neu eingerichtete Willkommensklasse der Böckler-Schule, einer beruflichen Schule mit dem Schwerpunkt Konstruktionsbautechnik. Oder wie Yehor sagt: »Metall«.
Insgesamt sind laut Bildungssenatorin Busse an Berlins Schulen seit Beginn des russischen Angriffskrieges zusätzlich zu den bereits vorhandenen über 500 Willkommensklassen rund 50 für inzwischen gut 1300 ukrainische Kinder und Jugendliche - vor allem Sprachanfänger - hinzugekommen, davon 15 an beruflichen Schulen wie der Hans-Böckler-Schule. 1100 weitere Schüler seien in Regelklassen untergekommen. Mittelfristig ging die Bildungsverwaltung zuletzt von bis zu 15.000 ukrainischen Schülern in der Hauptstadt aus. »Das sind enorme Zahlen«, sagt Busse. Und: »Wir brauchen noch weiter Kapazitäten, natürlich auch Hilfe vom Bund, das kann Berlin ja nicht alles stemmen.«
Die Senatorin beschwört bei der Gelegenheit noch einmal die bereits Anfang April von Berlins Regierender Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) ausgerufene »Zeit des Zusammenrückens« und »Zeit des Mehr-Kapazitäten-Schaffens« an den Schulen. Busse sagt: »Wir müssen sicher noch mehr zusammenrücken.« Aber das klappe ja bereits ganz gut. Wobei sie »ganz stolz drauf« sei, dass sich die die Schulen hier »sehr solidarisch« zeigen würden und »dass das von Herzen kommt«.
Die Besichtigungstour durch die Kreuzberger Hans-Böckler-Schule scheint ein Termin nach Busses Geschmack. »Das finde ich ja auch toll, Karosseriebau«, sagt die Bildungssenatorin. Überhaupt möge sie Schulbesuche. »Da habe ich dann immer noch den Bezug zur Praxis.« Als ehemalige Grundschulleiterin - Busse sagt über sich: »als alte Pädagogin« - könne sie das »auch nicht ablegen«. So habe sie auch sofort gesehen, »dass das eine sehr gepflegte Schule ist und ein guter Geist hier wohnt - ich kann das spüren«.
Guter Geist hin oder her: Mit der ukrainischen Lerngruppe ist die Zahl der Willkommensklassen an der Hans-Böckler-Schule auf acht gewachsen, knapp 100 der etwa 850 Jugendlichen, die die Schule besuchen, sind nun »Willkommensschüler«. Von den rund 65 Beschäftigten der Berufsschule nahe der Prinzenstraße erforderte die Einrichtung der ukrainischen Klasse mitten im laufenden Schuljahr dann auch erst mal ein gerüttelt Maß Organisationstalent.
»Wir machen das ja im Team und mussten da erst mal bei den Dienstplänen hin- und herschieben«, sagt Claudia Bacu, die die Klasse an diesem Donnerstag zusammen mit Ekaterina Heuer unterrichtet. Heuer spricht russisch und übersetzt die Fragen und Antworten Bacus und der Schüler. »Das sind ganz tolle Schüler, die sind das Lernen gewöhnt«, sagt Heuer. Dass sie selbst eine russische Migrationsgeschichte habe, spiele im Umgang mit den Jugendlichen aus der Ukraine keine Rolle: »Es gibt hier keine Probleme.«
Tatsächlich genossen die erstmals 2015 vor allem für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan eingerichteten Willkommensklassen lange Zeit keinen sonderlich guten Ruf. Kritisiert wurde - und wird - an dem Konzept vor allem, dass die separaten Lerngruppen die Ausgrenzung geflüchteter Kinder und Jugendlicher im Schulkosmos tendenziell eher befördern und die Integration behindern. Auch würden Schüler viel zu lange in den Willkommensklassen versauern, obwohl sie mit ihren Sprachkenntnissen längst in eine Regelklasse hätten wechseln können.
Mit einem Hang zur Dramatik hatte im März letztlich auch die ukrainische Generalkonsulin in Hamburg, Iryna Tybinka, gegen die »sogenannten Integrationsklassen« ausgeteilt. Diese Klassen würden »für die ukrainischen Kinder eine Wand des Unverständnisses, das Gefühl der Minderwertigkeit und des geringen sozialen Schutzes bedeuten«, erklärte Tybinka. Ihre Forderung: eine Beschulung nach ukrainischem Bildungssystem unter Einbeziehung ukrainischer Lehrkräfte.
Dem 17-jährigen Danylo aus Kiew, Yehors Banknachbarn, sind diese Diskussionen egal. Danylo sagt zu »nd«: »Ich fühle mich hier wirklich willkommen.«
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