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  • Wirtschaftskrise im Libanon

Keine Zukunft in Tripoli

Die wirtschaftliche Lage im Libanon ist katastrophal. Immer mehr junge Menschen wollen auswandern

  • Philippe Pernot, Tripoli
  • Lesedauer: 9 Min.

»Es fühlt sich an, als würde dich jemand festhalten, jede deiner Bewegungen und jeden deiner Gedanken kontrollieren.« So beschreibt Malda Issa, 28, die Auswirkungen der wirtschaftlichen Unterdrückung im Libanon. Sie wohnt in einem einfachen Viertel von Tripoli, der zweitgrößten und zugleich ärmsten Stadt des Mittelmeerlandes. »Vor drei Jahren hätten wir uns nie vorstellen können, an solch einem Tiefpunkt anzukommen. Ich hatte vor, im Libanon zu arbeiten und mich zu engagieren, um meine Heimat zu verbessern - jetzt habe ich hier keine Zukunft mehr«, seufzt die Masterstudentin und angehende Bauingenieurin. Mit diesem Gefühl ist sie im Libanon nicht alleine. Hoffnungslosigkeit hat sich ausgebreitet. Die Menschen im Libanon gehören dem Weltglücksbericht zufolge zu den unzufriedensten weltweit, an zweitletzter Stelle vor Afghanistan.

Nach den Aufständen von 2019, die zum Sturz der Regierung Saad Hariri führten, verschärfte sich die Wirtschaftskrise. Plötzlich verlor die libanesische Lira mehr als 90 Prozent ihres Wertes, und das gesamte Land stürzte in Armut. Auch die Jugend ist davon betroffen: Die meisten Schulen und Universitäten sind privat und teuer, aber die Gehälter, die in Lira bezahlt werden, sind fast nichts mehr wert. Auch die Arbeitslosigkeit der 17- bis 24-Jährigen ist auf 60 Prozent gestiegen. »Ich habe drei Jahre lang gekämpft und ständig auf Besserung gehofft. Jetzt habe ich aber akzeptiert, dass die jungen Menschen, die das Land verlassen, nicht feige sind. Nein - sie holen sich nur ihre Zukunft. Und das will ich auch«, erklärt Malda.

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Blick nach Deutschland

Wie viele in ihrem Alter sehnt sich die junge Libanesin nach einem besseren Leben in Deutschland. Das Land ist wegen seiner Wirtschaftskraft und der Universitäten bei jungen Menschen attraktiv - aber auch wegen seiner relativ liberalen Politik. Das weiß Hussein Al-Freij, 31, zu schätzen. »Im Libanon sperrt mich der Rassismus ein wie einen Vogel im Käfig«, sagt der Syrer. »Hier sind mir fast alle Berufe verboten. Ich könnte lediglich als Bauarbeiter, Bedienung oder als Hausmeister arbeiten.« Dabei arbeitet seine Familie seit mehr als 40 Jahren in Tripoli. Er selbst wohnt seit einem Jahrzehnt dort und studierte Jura, Politikwissenschaft, Lehramt und Informatik.

Trotzdem bleiben ihm alle Türen verschlossen, weil die 1,4 Millionen Menschen aus Syrien, die im Libanon Zuflucht gefunden haben, ausgegrenzt werden. »Ich bin 31 und habe keine Arbeit, keine Familie und keine Heimat«, seufzt er. Nach Syrien kann er als Kriegsdienstverweigerer nicht mehr zurück und will es sowieso nicht: »Ich hasse das Assad-Regime über alles«, sagt er. Sein Traum war eigentlich, in Tripoli ein Gasthaus für internationale Studierende zu eröffnen, um ihnen Arabisch beizubringen. Doch das darf er als Syrer nicht. Dank einiger Arabisch-Sprachkurse, die er online anbietet, hält er sich derzeit über Wasser. Aber eine Zukunft ist das nicht. »Meine einzige Möglichkeit ist, Deutsch zu lernen und dann nach Deutschland zu gehen.« Dort will er als Lehrer, NGO-Mitarbeiter oder als Jurist arbeiten. »Deutschland respektiert unsere Rechte mehr als der Libanon«, glaubt er - oder hofft es zumindest.

Die Lage in der kleinen Mittelmeerrepublik Libanon ist für viele Jugendliche kaum mehr zu ertragen. Studien zeigen, dass dort bis zu 90 Prozent der jungen Menschen psychisch erkrankt sind, zuletzt gab es viele Suizide. Das weiß auch Mira Succari, 20, die seit fünf Jahren an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet. Das Gesundheitssystem des Libanon ist aber kaum in der Lage, ihr zu helfen: »Ich bekomme Medikamente wegen einer bipolaren Störung, die überhaupt nicht angemessen sind. Die Nebenwirkungen sind fast schlimmer als die ursprünglichen Symptome, jetzt leide ich an Übergewicht und an ADHS«, klagt sie.

Die Hoffnungslosigkeit wird für Jugendliche, die sich in ihrer Gesellschaft oft nicht verstanden fühlen, mitunter dramatisch. Vor zwei Monaten hat Miras beste Freundin Selbstmord begangen, weil sie queer war und an Psychosen litt, die nicht behandelt wurden. Auch sie ist gefährdet: »Ich habe im letzten Monat zweimal daran gedacht, mein Leben zu beenden. Wenn ich länger hierbleiben muss, dann werde ich Selbstmord begehen«, sagt sie. »In Deutschland würde ich eine angemessene Behandlung bekommen. Dort gibt es Medikamente, die ich brauche. Dann hätte ich eine Chance, die Depressionen und Traumata zu überwinden.«

Doch für die jungen Menschen ist es nicht leicht, nach Deutschland zu kommen. Zuerst einmal müssen sie die Sprache lernen. Denn Studierende brauchen meistens ein A2-Niveau in deutscher Sprache, also grundlegende Kenntnisse, um auf Englisch studieren zu können, und ein B2-Niveau, das die selbstständige Sprachverwendung attestiert, um ihr Studium auf Deutsch fortsetzen zu können. Sprachkurse im Libanon sind aber teuer, kosten pro Niveau rund 200 Dollar. Ein normales Monatsgehalt liegt dagegen bei 50 bis 80 Dollar. »Mein Vater musste alle unsere Wertsachen verkaufen, damit ich Deutsch lernen und mich für das Studium bewerben konnte«, meint Taha Tartoussi, 25. Der studierte Maschinenbauingenieur ist seit zwei Jahren arbeitslos, seine Familie verarmt. Daher sieht er seine einzige Hoffnung auf Besserung in Deutschland.

Letztes Jahr buchte er A1- und A2-Kurse in einem Sprachinstitut in Tripoli, doch wegen mangelnder Qualität entschied er sich, als unabhängiger Student weiter zu lernen. »Es ist aber nicht immer leicht, alleine Deutsch zu lernen. Ich habe niemanden, der mich motiviert. Gekoppelt mit dem niedrigen Selbstwertgefühl, das ich wegen der Arbeitslosigkeit habe, ist es sogar echt hart.« Viele Studierende sind zwischen finanzieller Not und alltäglichen Problemen in der Krise so sehr strapaziert, dass sie aufgeben. So wie Mira, die es mit der Duolinguo-App versuchte, es aber wegen ihrer Erkrankung nicht schaffte, »mehr als ein paar Wörter zu lernen«. Deswegen hat sie nun vor, Deutschkurse in Hannover zu besuchen und danach Fotografie in Berlin zu studieren.

Um Deutsch zu lernen, musste Rabih Hajjo, 21, seine Arbeit als Barista in einem Café aufgeben. Wie viele junge und ausgegrenzte Menschen Libanons fand er sein Glück im Crypto-Gaming. »Im Café arbeitete ich 45 Stunden pro Woche für 70 Dollar im Monat und hatte keine Energie mehr zum Deutschlernen. Jetzt kann ich mir sogar die Zeit nehmen, um Filme, Serien und Youtube-Videos anzuschauen, um mein Deutsch zu verbessern und mich an die Kultur anzunähern.« Als Palästinenser hat er im Libanon nur wenige andere Optionen: 70 Berufe sind für ihn und seine Landsleute verboten, die anderen sind oft schlecht bezahlt, und die Arbeitsbedingungen sind hart. »Meine Großeltern sind 1948 als Kinder aus Palästina vertrieben worden; meine Eltern und ich sind im Libanon geboren und aufgewachsen. Wir haben nichts mit dem Krieg zu tun, doch werden wir täglich bestraft«, klagt er. »Das ist absurd.«

Sein 2019 verstorbener Vater zog 1983 nach Deutschland, seitdem wohnt die Hälfte seiner Familie dort. Doch er hat nie das Recht auf Familienzusammenführung erhalten. »Jetzt habe ich endlich die Chance, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen«, sagt er. Dank einiger Apps, Social-Media-Kanälen und Büchern vom Goethe-Institut konnte er ein A2-Niveau erreichen, »ohne einen einzigen Dollar auszugeben«. Jetzt will er das B1-Niveau schaffen. Nur findet er weit und breit keinen Weg, um die Prüfung beim Goethe-Institut zu buchen. »Jeden Morgen wache ich in der Hoffnung auf, einen Facebook-Post des Instituts zu sehen, mit dem ich mich dann für einen Platz bewerben kann«, erzählt er.

Chaos bei den Sprachprüfungen

Bisher vergeblich: Sobald ein Post erscheint, sind alle Plätze für die Prüfungen schon ausgebucht. Das Problem kennen auch Malda und Taha. »Im ganzen Nahen Osten ist es fast unmöglich, diese Tests zu buchen«, beklagt Taha. »Wenn das Goethe um 9 Uhr postet, dass Plätze für die B1-Prüfung offen sind, dann ist es um 9.05 Uhr schon zu spät«, sagt Malda, die seit fünf Monaten darauf wartet. »Das macht mich wahnsinnig! Ich verliere langsam die Hoffnung, meine B1-Prüfung im Libanon machen zu können«, sagt Rabih. Er beschuldigt das Goethe-Institut, Abkommen mit Sprachschulen getroffen zu haben, um deren Studierende zu begünstigen.

Am Telefon bestätigt Rima Chafi, Leiterin des German House in Saida, diese Praxis: Es handele sich um »eine Zusammenarbeit, aber keine Partnerschaft«. Das Goethe-Institut vertraue ihrer Schule, »weil unsere Studierenden sehr gute Leistungen erbringen und bei den Prüfungen immer pünktlich sind«. Sie könne dem Goethe-Institut eine Liste von Bewerber*innen schicken, die dann automatisch ihre Prüfungsplätze bekommen würden. Rabih findet, dass das andere - ärmere - Studierende diskriminiere. »Die Prüfungsplätze kosten sowieso schon 60 Dollar, ein Monatsgehalt, ohne jegliche Annahmegarantie«, sagt Taha.

Die Sprachprüfungen sind nicht die einzige Schwierigkeit, die junge Menschen aus dem Libanon überwinden müssen, bis sie nach Deutschland ausreisen dürfen. »Die deutsche Botschaft in Beirut ist furchtbar«, seufzt Mira. »Nachdem ich sie mehrere Male angerufen hatte, um eine Terminvereinbarung zu erbetteln, drohten sie mir, mein Visumverfahren einzustellen.« Sie musste drei Monate auf einen Termin warten, während sich ihre Borderline-Persönlichkeitsstörung verschlimmerte. Die Deutschakademie in Hannover hatte sie zwar schon längst angenommen, doch verpasste sie wegen des fehlenden Visums das erste Semester. Am Tag unseres Gesprächs bekam sie einen Termin, muss danach aber bis zu sechs Monate warten, um ihr Visum zu bekommen. »Bis dahin liegt mein Leben auf dünnem Eis. Ich habe mein Studium, mein Liebesleben, meine Leidenschaften im Libanon aufgegeben und warte auf Deutschland, um neu anzufangen«, sagt sie.

Darauf hoffen sie alle. Obwohl mit dem Auswandern auch eine Ungewissheit und Ängste einhergehen. »Natürlich habe ich Angst vor Rassismus in Deutschland«, sagt Malda. Rabih war erstaunt, als er von Neonazis und der AfD erfahren hat: »Ich werde Faschisten aus dem Weg gehen müssen«, meint der junge Libanon-Palästinenser. Eine Sache ist für alle klar: Sie wollen sich in Deutschland gesellschaftlich engagieren. Malda und Hussein möchten »selbstverständlich« ihre Tätigkeit in Hilfsorganisationen fortsetzen, zum Beispiel als Übersetzer*innen, um anderen zu helfen.

Doch ob sie für immer in der Bundesrepublik bleiben möchten, wissen die jungen Menschen nicht. »Eigentlich wollte ich schon immer in den Golfstaaten leben, aber wegen der Geopolitik ist es geradezu unmöglich - vielleicht werde ich aber später von Deutschland nach Dubai ziehen«, erklärt Taha. Für andere erscheint Deutschland als eine potenzielle neue Heimat. »Im Libanon bin ich weder Libanese noch Palästinenser, aus allen Gemeinschaften bin ich ausgegrenzt. Vielleicht wird das in Deutschland anders sein«, sagt Rabih hoffnungsvoll. Die deutsche Kultur »fasziniert« ihn und er möchte endlich seine Familie dort kennenlernen. Diese Hoffnung teilt auch Hussein. Vor dem Bürgerkrieg in Syrien hatte er Jura studieren wollen, um in der Anwaltskanzlei seines Onkels in Aleppo arbeiten zu können. Dieser ist vor einigen Jahren nach Deutschland gegangen und Hussein hofft, dort seinen Wunsch verwirklichen zu können. »Vielleicht werde ich meine Zukunft endlich fortsetzen können, nach mehr als zehn Jahren Krieg und Krise«, sagt er. Als wäre seine Zeit im Libanon nur eine schmerzhafte Auszeit gewesen.

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