Putins Irrtum

Der Ukraine-Krieg stärkt jene Kräfte, die Russland aus Europa heraushalten wollen

  • Wolfgang Schwarz
  • Lesedauer: 5 Min.

Kein Krieg in diesem Jahrhundert verlief nach Plan. Wer einen Krieg beginnt, geht von günstigen Ergebnissen aus. Es wird rational geplant, aber bald schon spielen Faktoren eine Rolle, die ursprüngliche Annahmen über den Haufen werfen.

Gabriel Kolko, Historiker, 1999

Linke, Krieg und Frieden

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.

Als Moskau den USA und der Nato am 15. Dezember 2021 Vertragsentwürfe mit sicherheitspolitischen Forderungen unterbreitete, mit deren Annahme es nicht im Ernst rechnen konnte, und dies mit dem ultimativen Verlangen verband, darüber nicht zu verhandeln, sondern die Dokumente gefälligst zu unterzeichnen, mag mancher sich gefragt haben: Und wenn das nicht klappt, was ist dann Putins Plan B?

Die offizielle Ablehnung der russischen Forderungen durch die USA und Nato erfolgte praktisch mit der Übergabe von deren schriftlichen Antworten an Moskau Ende Januar. Und über Putins Plan B muss seit dem Abend des 21. Februar 2022 nicht mehr gerätselt werden: Russland hat die von der Ukraine abtrünnigen »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk völkerrechtlich anerkannt, mit ihnen im gleichen Atemzug Freundschafts- und Hilfsabkommen abgeschlossen, und der russische Präsident konnte ab sofort reguläre russische Streitkräfte anweisen, in beide Gebiete als »Friedenstruppen« einzurücken.

Wer nun annimmt, dass es gar keines Planes B bedurfte, weil der russische Einmarsch von vornherein Plan A war, für den die Ablehnung der Forderungen vom 15. Dezember nur das Vorspiel zu liefern hatte, der dürfte ziemlich richtig liegen. Vorgeführt werden sollte lediglich nochmals, dass der Westen nicht bereit ist, berechtigten russischen Sicherheitsinteressen Rechnung zu tragen. Moskau dürfte sich in den Tagen vor der Invasion in die Ukraine in dieser Annahme erneut bestätigt gesehen haben - durch die diplomatischen Stippvisiten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz in Moskau.

Während dieser Aufenthalte war zwar stundenlang miteinander geredet worden, jedoch ohne dass sich für Moskau Veranlassung zu der Erwartung ergeben hätte, die beiden Teilnehmer am sogenannten Normandie-Format könnten nun doch noch beginnen, auf Kiew ernsthaft Druck dahingehend auszuüben, seinen Verpflichtungen aus dem Minsk-II-Abkommen endlich nachzukommen und dem mit diesem Abkommen intendierten Friedensprozess in der Ostukraine Leben einzuhauchen. Andere westliche Akteure wie US-Präsident Joe Biden oder die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ganz zu schweigen, hatten zu diesem Zeitpunkt überhaupt nur noch Drohungen an die Adresse Moskaus auf Lager.

So hat Russland schließlich die georgische Option gewählt. Man erinnert sich: Im August 2008 hatte der damalige georgische Präsident Michail Saakaschwili das Geraune seiner US-amerikanischen Berater offensichtlich fehlgedeutet und in der Erwartung, die USA würden im Falle des Falles militärisch zu Hilfe eilen, seine Armee in Marsch gesetzt, um die abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien zurückzugewinnen.

Moskau vereitelte dies bekanntlich mit überlegenen Truppen, und die USA blieben fern. Danach sprach Russland die völkerrechtliche Anerkennung beider Gebiete als unabhängige Staaten aus und stationierte dort dauerhaft militärische Kräfte. Seither ruht der Konflikt, und der von der Nato am 3. April 2008 auf ihrem Gipfel in Bukarest gefasste Beschluss, Georgien (und die Ukraine) würde Mitglieder des Paktes werden, ist auf unabsehbare Zeit Makulatur.

Dieses Mal allerdings hatten die USA und die Nato in den Wochen vor Ausbruch des militärischen Konfliktes wiederholt erklärt, sie würden in einem solchen Falle die Ukraine nicht mit westlichen Streitkräften unterstützen. Daher war mit einem massiven militärischen Vorgehen Kiews gegen Donezk und Luhansk vor der Hand nicht mehr zu rechnen. Das hätte der Diplomatie weitere Zeit zur Lösung des Ostukraine-Problems verschaffen können, wobei Russland jedoch die Chance zu deren Nutzung durch seinen völkerrechtswidrigen Einmarsch ausgeschlagen hat. Um den Preis, vor aller Welt als Aggressor dazustehen.

Dass davon die westlich dominierte europäische Sicherheitsarchitektur - wie sie durch die mittlerweile fünf Nato-Osterweiterungen, unter Ausgrenzung Russlands, aber längst bis in dessen unmittelbares Vorfeld seit den 1990er Jahren errichtet worden ist - negativ tangiert würde, darf bezweifelt werden. Das Gegenteil wird der Fall sein. Und wenn etwa in Finnland oder Schweden jene Kräfte Auftrieb gewinnen, die sich am liebsten ganz unter den »Schutzschirm« der Nato begäben, spätestens dann würde auch keine georgische Option mehr zur Verfügung stehen. Ganz davon abgesehen, dass die jetzige Entwicklung Wasser auf die Mühlen all jener Kräfte im Westen ist, die Russland auf Dauer in der Rolle des Feindes sehen und aus Europa ausgegliedert halten wollen - beziehungsweise grundsätzlich die Meinung vertreten, eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands sei bestenfalls eine hirnlose Illusion.

Sollte der russische Präsident, dem ein gewisser Machismo in früheren Jahren nicht gänzlich fremd gewesen zu sein scheint, sich jetzt wie Alexander der Große nach dem Zerhauen des Gordischen Knotens vorkommen, dann dürfte er schief gewickelt sein. Denn wenn der Russland-USA-Nato-EU-Ukraine-Konflikt nicht bisher schon ein solcher Knoten war, dann ist er es jetzt ganz bestimmt.

Im Übrigen mag Russland die Zuspitzung der Lage zwar als reaktiv im Hinblick auf jahrzehntelange sicherheitspolitische Zurücksetzung durch den Westen empfinden, es hat sie gleichwohl selbst losgetreten. Und dass Putin dies noch dazu als geeigneten Moment empfand, die von keinem Experten, nirgendwo, bezweifelte Einsatzbereitschaft der ballistischen Kernwaffeneinsatzmittel Russlands durch entsprechende Teststarts unmittelbar vor dem Einmarsch praktisch unter Beweis zu stellen, ist Krisenmanagement nach Art von Hasardeuren und erinnert fatal an das bekannte Bonmot, dass man auch Selbstmord aus Angst vor dem Tode begehen kann.

Sollte der Konflikt jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt weiter eskalieren, bis hin zu einem Großkrieg mit der Gefahr, nuklear zu werden, dann braucht sich anschließend niemand mehr solche oder ähnliche Gedanken zu machen. Und dann wäre das Ende des Kalten Krieges 1989/90 - grausamer Zynismus der Geschichte - keine welthistorische Zäsur gewesen, sondern nur das, was man im Drama das retardierende Moment nennt: Die Entwicklung scheint sich zum Guten zu drehen, nur damit die nachfolgende Katastrophe mit umso größerer Wucht niederfahren kann.

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