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Kein ganz stilles Gedenken

Zum Tag der Befreiung kochen die Emotionen hoch

  • Louisa T. Braun und Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Die blumengeschmückte »Mutter Heimat« am Tag der Befreiung im Treptower Park
Die blumengeschmückte »Mutter Heimat« am Tag der Befreiung im Treptower Park

»Russland hat den Krieg nicht angefangen«, behauptet eine ältere Frau mit schriller Stimme. Ihr Gegenüber widerspricht, sie sei aus der Ukraine. »Kein Frieden in der Welt, ohne Frieden mit Russland«, steht auf einem Plakat der ersteren. Während ein jüngerer Mann die beiden trennt, entbrennt einige Meter weiter schon der nächste Konflikt: Eine Gruppe von 20 Menschen trägt große Flaggen der Kommunistische Partei der Türkei und der Kommunistischen Partei Griechenlands zur Kolossalstatue des Rotarmisten mit dem Kind auf dem Arm und dem zerbrochenen Hakenkreuz zu seinen Füßen, dem zentralen Teil des Sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park.

»Sie müssen die Flaggen wegpacken, sonst gibt es einen Platzverweis«, erklärt ihnen ein Polizist. Am 8. und 9. Mai, den Tagen der Befreiung und des Sieges über den Faschismus, gilt im ganzen Treptower Park eine Verbotsverfügung, laut der weder militärische Zeichen noch Flaggen gezeigt werden dürfen, die Unfrieden stiften könnten. »Das heißt, der Berliner Senat steht auf Faschismus«, so die Deutung eines Flaggenträgers. DDR-Fahnen oder solche mit Friedenstauben, die am Vormittag des 8. Mai ebenfalls zu sehen sind, sind hingegen genehmigt.

Eigentlich sollte in diesem Jahr aufgrund des Kriegs in der Ukraine in Stille an die Befreiung vom Faschismus gedacht werden. Zumindest am anderen Ende des Sowjetischen Ehrenmals, vor der Statue »Mutter Heimat«, funktioniert das. Dutzende Menschen legen friedlich Blumen vor der Statue ab. »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus«, steht auf dem Kranz der Linken Treptow-Köpenick. »Nein zum Krieg« ist auf Deutsch und Ukrainisch auf den Stickern an den Nelken zu lesen, die die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) und der Treptower Bund der Antifaschisten (BdA) verkaufen.

Brigitte und Gunther Teicke, die an jedem 8. Mai hierher kommen, finden das stille Gedenken angemessen. »Wir haben den Krieg als Kinder erlebt und wissen es sehr zu schätzen, dass wir aus der Not und dem Elend rausgekommen sind«, sagt Gunther Teicke. An seinem Blumenstrauß hängt ein Schild, auf dem »Dank ihr Sowjetsoldaten« steht. »Zu den Sowjetstaaten gehörte auch die Ukraine, die haben uns auch befreit«, ergänzt seine Frau. Sie ist froh darüber, dass so viele Polizist*innen heute im Treptower Park sind, um Eskalationen zwischen russischen Nationalist*innen und Kriegsgegner*innen zu verhindern. So fühle sie sich sicherer.

Viele andere Teilnehmer*innen des Gedenkens sind nicht zufrieden damit, dass in diesem Jahr auf Rede- und Musikbeiträge verzichtet wird, und wollen die aktuelle politische Lage auch nicht von der Erinnerung an die Befreiung trennen. »Wir dürfen die Geschichte nicht negieren. Für uns als Ostdeutsche ist es sehr schwer zu ertragen, dass wir uns so klein machen lassen«, sagt Cornelia Bormann. Sie findet es »unglaublich, dass Deutschland die Ukraine so unterstützt. Zu einem Krieg gehören immer zwei dazu.« Ihre schräge Deutung der Geschichte: Deutschland und die Ukraine seien Handlanger der USA geworden, Russland sei aufgrund der Nato-Osterweiterung gezwungen, Krieg zu führen.

Elfriede Matthias, die ebenfalls zum Gedenken gekommen ist, glaubt an die seit geraumer Zeit um sich greifende Verschwörungserzählung, dass in der Ukraine »Nazis und Faschisten herrschen«. Ihr Begleiter, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, nennt es »schade, dass den Sowjetsoldaten nicht gedankt wird und die Befreiung vom Faschismus nicht gefeiert wird«. Er sagt: »Eigentlich müsste ganz Berlin auf den Knien hierher rutschen.«

Natürlich gebe es unterschiedliche Meinungen und einiges an Gegenwind, sagt Ellen Händler, Vorsitzende des BdA Treptow. Trotzdem erfahre sie auch viel Zustimmung für die Linie, politische Differenzen aus dem Gedenken an die Befreiung herauszuhalten. »Heute geht es darum, dass wir für den Frieden sind«, betont sie. Um 11 Uhr sind die Nelken der VVN-BdA schon ausverkauft. Katalin Gennburg, Abgeordnete der Berliner Linksfraktion, findet es »total wichtig, dass wir das ›Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus‹ hochhalten und dass der Tag nicht gekapert wird«, sagt sie mit Blick auf die Vereinnahmungen von Russlandfreund*innen und ‑gegner*innen.

Bei einem Gedenken zum Tag der Befreiung im brandenburgischen Landtag in Potsdam sagt Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) am Sonntagnachmittag, auch 77 Jahre danach müsse man dankbar sein, »dass uns Soldaten vieler Nationen vom Nationalsozialismus befreit haben«, darunter auch Russ*innen und Ukrainer*innen, die einen »hohen Blutzoll« bezahlten.

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk schildert als Gast die Opfer seiner Heimat im Zweiten Weltkrieg und den Beitrag seiner Landsleute zur Befreiung: Acht bis zehn Millionen Ukrainer*innen seien umgekommen, ein Viertel der Bevölkerung, darunter fünf Millionen Zivilisten und 1,6 von insgesamt drei Millionen ukrainischen Jüdinnen und Juden. 7000 Städte und 28 000 Dörfer seien verwüstet, zigtausende Betriebe, Schulen und Brücken zerstört worden. Mehr als sechs Millionen Ukrainer*innen kämpften Melnyk zufolge in der Roten Armee gegen Hitler und weitere 250 000 in anderen Armeen. Der Kreml rede das klein und behaupte, die Russ*innen hätten die Faschist*innen allein besiegen können. »Leider sind diese Zahlen in der deutschen Öffentlichkeit heute kaum bekannt«, bedauert der Botschafter. Er nennt es eine Geschichtsverdrehung, die Sowjetunion mit Russland gleichzusetzen. Er beklagt, in Deutschland seien aus Dankbarkeit für die Befreiung vom Faschismus die Augen bei Verbrechen Russlands zugedrückt worden. Der Botschafter fordert in Berlin ein Denkmal für die ukrainischen Naziopfer, die hier bislang übersehen worden seien. Er vergisst dabei nun selbst, dass die sowjetischen Ehrenmale in der Stadt keine russischen Ehrenmale sind und auch an ukrainische Soldaten erinnern.

Im Vorfeld befürchteten Politiker*innen von SPD und Linke, Melnyk werde für einen Eklat sorgen, etwa Hitlers Vernichtungskrieg mit dem russischen Angriff auf seine Heimat gleichsetzen und damit verharmlosen, oder er werde den ukrainischen Antisemiten Stepan Bandera würdigen. Dergleichen tut er mit keinem Wort und erhält für seine Rede auch von der Linksfraktion Beifall. Dass man es der Ukraine nicht verdenken könne, wenn sie Bandera als Helden verehrt, behauptet dann im Landtag erst die Historikerin Kerstin Susanne Jobst.

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