Die gebrochene Stadt

Durch die rigorose Null-Covid-Strategie Chinas ist Shanghai seit Wochen lahmgelegt

  • Fabian Kretschmer
  • Lesedauer: 7 Min.

Die junge Frau versteckt sich hinter der abgeschlossenen Wohnungstür, mit ihrem Smartphone möchte sie die drohende Katastrophe dokumentieren. »Die Seuchenschutzbehörde hatte versprochen, dass sie mein Testergebnis erst noch überprüfen wird, ehe sie etwas unternimmt«, ruft sie hilflos in den Hausflur, wo die Polizisten bereits lautstark anrücken. Doch ohne lange zu fackeln, tritt einer der Beamten mit neun kraftvollen Stößen die Holztür ein. Der Mann stürmt, in weißem Ganzkörperanzug gekleidet, auf die Frau zu, die schließlich in eines der unzähligen Isolationslager gebracht wird.

Seit über einem Monat hält der weitreichendste Lockdown der Welt nunmehr an. Was in Shanghai passiert, legt auch auf eindrückliche Weise offen, wie weit die chinesische Staatsführung unter Xi Jinping bereit ist zu gehen, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Denn der Kampf gegen das Virus ist längst auch zur Propagandaschlacht geworden, bei der das Wohl der Bevölkerung immer häufiger eher als Vorwand dient. Es geht vielmehr darum zu beweisen, was die Regierung ihren Bürgern seit bereits zwei Jahren täglich predigt: dass China es als einziges Land der Welt schafft, das Land frei vom Virus zu halten. »Null Covid« ist zum Symbol für die vermeintliche Überlegenheit des eigenen Systems gegenüber dem Westen geworden. Und nun droht es sich, ins Gegenteil zu verkehren: Die epidemiologische Nulltoleranz-Strategie legt schonungslos die Schwächen des chinesischen Systems auf.

»Das ist ein Breitbandschaden für die Wirtschaft, die befindet sich zum Teil im freien Fall«, sagt Jörg Wuttke, Präsident der europäischen Handelskammer in Peking. Seit den 80er Jahren lebt der Manager bereits im Land, doch einen solch rasanten Umschwung wie zuletzt hat der Deutsche noch nicht erlebt: von Sonnenschein-Optimismus hin zur Trauerstimmung innerhalb weniger Wochen.

Der 1. April hat alles verändert. Damals sperrten die Behörden die knapp 26 Millionen Einwohner Shanghais in ihre Wohnungen ein. Der radikale Lockdown löste eine humanitäre Katastrophe aus, wie sie noch vor wenigen Monaten als undenkbar galt: In der wohlhabendsten Stadt des Landes bricht die Nahrungsmittelversorgung über mehrere Wochen zusammen, sodass selbst Multimillionäre und Banker auf den sozialen Medien verzweifelte Hilfeschreie absetzen. Die Ausgangssperren führen dazu, dass Asthmakranke, Diabetiker und Krebspatienten sterben, weil ihnen der Einlass in die Krankenhäuser verwehrt wird. Und Hunderttausende Infizierte werden gegen ihren Willen in Massenlager abtransportiert, in denen die Hygiene miserabel ist.

Es hat nicht lange gedauert, bis sich der Frust und die Verzweiflung der Bewohner immer offener entladen – in Handgemengen mit den Nachbarschaftskomitees, in Supermarkt-Plünderungen und Schreichören aus den Fenstern. Als die Anwohner einer Appartmentsiedlung mit Kochlöffeln und Töpfen auf ihre Situation aufmerksam machten, hatte die Polizei schon bald die Schuldigen gefunden: »Ausländische Kräfte stacheln die Menschen in Shanghai an, gegen die Pandemieprävention zu protestieren«, heißt es in einer offiziellen Stellungnahme.

Auch in der Fudan-Universität, einer der Elitekaderschmieden des Landes, sind die Studierenden auf die Barrikaden gegangen. »Das ist eine Universität und kein Konzentrationslager«, haben sie an die Wände ihres Wohnheims geschrieben. Als sie sich zum Protest zusammentaten, schalteten die Behörden kurzerhand den Internetzugang auf dem Campus ab und entsandten die Bereitschaftspolizei.

Dabei haben die jungen Chinesen allen Grund zur Revolte. Die meisten Universitäten in Shanghai sind bereits seit über zwei Monaten abgesperrt. Studierende berichten, dass sie über Wochen ihre Sechsbettzimmer nicht verlassen dürften. Bis heute wird ihr Alltag bis ins kleinste Detail vom sogenannten Gesundheitscode bestimmt, den jeder auf seinem Handy mit sich führt: An der Universität Shanghai etwa dürfen die Doktoranden die kommunalen Waschräume nur alle zwei Tage für wenige Stunden aufsuchen.

In den Quarantänelagern der Stadt müssen die Insassen dagegen ganz auf Duschräume verzichten. In den riesigen Anlagen, in denen Zehntausende Infizierte untergebracht sind, bleiben für die Hygiene lediglich Waschbecken, Lappen und Plastikeimer. In riesigen Hangarhallen liegen die Leute auf Campingbetten, bis sie irgendwann nach zwei negativen Covid-Tests in ihre Wohnungen entlassen und dort weiter eingesperrt werden.

Damit sich eine ähnliche Tragödie wie in Shanghai in der Hauptstadt Peking nicht wiederholt, haben die Behörden keineswegs ihre Null-Covid-Strategie überdacht. Im Gegenteil: Sie greifen viel früher mit harter Hand durch. Bereits nach insgesamt 200 Corona-Fällen im Stadtgebiet hat die Lokalregierung das Essen in Restaurants verboten, die Kinos geschlossen und eine strikte Testpflicht eingeführt. Wer keinen negativen PCR-Test innerhalb der letzten 48 Stunden vorweisen kann, wird nicht einmal in den Supermarkt gelassen. Um sich für einen drohenden Lockdown zu rüsten, haben praktisch sämtliche Hauptstadtbewohner ihre Vorratsspeicher aufgefüllt.

Doch insbesondere die älteren Chinesen bleiben optimistisch. »Ich glaube nicht, dass es zum Lockdown wie in Shanghai kommt«, sagt Li Dong, 72 Jahre, der in einer der traditionellen Hutong-Siedlungen im Stadtzentrum kommt. Er habe Vertrauen in die Behörden, sagt der Antikhändler: »Wenn nun auch die Hauptstadt fällt, was soll dann aus unserem Land werden?«

Staatschef Xi Jinping hält dagegen am Kurs der Abschottung und Isolierung fest. Schließlich hatte seine Nulltoleranz-Strategie bislang funktioniert. Bis Jahresanfang trafen die schmerzlichen Lockdowns nur einen Bruchteil der Bevölkerung und blieben zeitlich begrenzt. Der Großteil der 1,4 Milliarden Chinesen konnte bereits seit Frühjahr 2020 einen normalen Alltag führen, wie er in den meisten Teilen der Welt erst jetzt langsam wieder möglich ist. Doch spätestens mit der hochinfektiösen Omikron-Variante hat der Preis von Null Covid dessen Nutzen deutlich überstiegen: Laut Schätzungen des Pekinger Marktforschungsinstituts Gavekal Dragonomics war im April rund ein Viertel der Bevölkerung von den flächendeckenden Ausgangssperren betroffen.

Selbst Zhong Nanshan, ein führender Gesundheitsexperte im Land, hat unlängst in einer akademischen Publikation eingeräumt, dass die Volksrepublik China ihre Null-Covid-Strategie langfristig nicht aufrechterhalten könne. Doch anstatt sich auf eine inhaltliche Debatte einzulassen, wurde der Beitrag des 85-Jährigen schlicht vom Zensurapparat gelöscht.

Denn Chinas Kurs ist unweigerlich mit der Person Xi Jinpings verknüpft. Der 68-Jährige wird weiterhin an seiner Strategie festhalten. Im Blick hat Chinas Chefideologe dabei vor allem den Parteikongress der Kommunistischen Partei im Herbst, bei dem er seine dritte Amtszeit ausrufen wird – als erster Staatschef seit Mao Tsetung. Dabei soll nichts seine Machtzementierung gefährden, weder kritische Stimmen noch ein unberechenbares Virus.

Damit dieser Plan aufgehen kann, ist ein immer strengerer Zensurstaat nötig. In den Abendnachrichten des Staatsfernsehens werden täglich die Corona-Toten in den Vereinigten Staaten aufgesagt, während China als Land der Seligen gepriesen wird. Selbst wissenschaftliche Debattenbeiträge über eine mögliche Öffnung des Landes werden auf den sozialen Medien ausradiert.

Doch diejenigen Chinesen, die mithilfe illegaler VPN-Software auch kritische Informationen aus dem Ausland konsumieren, haben Xi bereits den zynischen Spitznamen »Kaidaoche« verpasst: ein alternder, vom Persönlichkeitskult umnebelter Herrscher, der sein Land im Rückwärtsgang gegen die Wand fährt. Bei Mao stand am Ende das traumatische Chaos der Kulturrevolution. Xi Jinping hingegen läuft Gefahr, sein Land in die wirtschaftliche Rezession zu führen.

Zumindest in Shanghai flackerte die Hoffnung auf ein Ende des Lockdowns auf. Anfang Mai schien sich die Situation deutlich verbessert zu haben. Die Behörden hatten erstmals keine lokalen Infektionen außerhalb der designierten Quarantänebereiche vermeldet. Mehrere Millionen Menschen durften endlich die leeren Straßen betreten.

Doch am Montag darauf folgte ein herber Rückschlag: Die nationale Gesundheitskommission hat erneut Infektionen außerhalb der abgesperrten Bereiche entdeckt. Mindestens 58 Menschen haben sich infiziert. Sämtliche Nachbarn von jedem einzelnen von ihnen werden nun für 14 Tage wieder in die Wohnung gesperrt.

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