»Wie soll man Katastrophe steigern?«

Der Krieg in der Ukraine könnte eine weitreichende Hungersnot nach sich ziehen

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 9 Min.
Jemeniten sind auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Ein Drittel der Weizenimporte in dem Bürgerkriegsland kam bisher aus der Ukraine.
Jemeniten sind auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Ein Drittel der Weizenimporte in dem Bürgerkriegsland kam bisher aus der Ukraine.

Herr Mogge, wird der Krieg in der Ukraine zu Hungersnöten führen?

Interview

Mathias Mogge (58) ist seit 2018 Generalsekretär und Vorstandsvorsitzender der Hilfsorganisation Welthungerhilfe. Der Agraringenieur und Umweltwissenschaftler war als Entwicklungsexperte unter anderem im Darfur und in Mali im Einsatz. Der Vater von drei Kindern ist Gitarrist der Band »White Maze« und Triathlet. Mit ihm sprach Philipp Hedemann.

Bereits jetzt hungern Menschen in der Ukraine. Mit der Alliance2015, einem Netzwerk aus sieben europäischen, nicht kirchlichen Hilfsorganisationen, beschaffen wir deshalb Lebensmittel und verteilen sie in der Ukraine. Zudem sichern wir das Überleben der vom Krieg betroffenen Menschen durch Bargeldtransfers.

Wie bringen Sie die Lebensmittel in die umkämpften Gebiete?

Mit unseren Partnerorganisationen beladen wir in der Tschechischen Republik Sonderzüge mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und anderen Hilfsgütern. Die Züge fahren bis in den Osten der Ukraine. Von den Bahnhöfen werden die Hilfsgüter mit Lastwagen in Dörfer und Städte gefahren, in denen die Not am größten ist. Auch in Orte, die unter Beschuss liegen. Bereits sieben Züge haben die Menschen im Osten des Landes mit den dringend benötigten Hilfslieferungen erreicht.

Das klingt gefährlich …

Ja, die Transporte sind hochsensible und sehr schwierige Operationen. Unsere Partnerorganisation People in Need kann sie nur durchführen, weil sie seit vielen Jahren in der Ukraine arbeitet und dort über beste Kontakte verfügt.

Wurden bei den Hilfstransporten Helfer verletzt oder getötet?

Unsere Partnerorganisationen haben bislang keine Opfer zu beklagen. Doch bei anderen Hilfsorganisationen wie der Caritas kamen bereits Mitarbeiter ums Leben, als sie versucht haben, Menschen in Not zu helfen. Seit Ausbruch des Krieges haben wir auch eigene Mitarbeiter unseres Emergency Response Teams in der Ukraine im Einsatz und sind dabei, weitere Experten zu rekrutieren. Wir tun alles, um die Kolleginnen und Kollegen bestmöglich zu schützen.

Bis zum Ausbruch des Krieges war die Welthungerhilfe nicht in der Ukraine aktiv. Wird die Ukraine jetzt zu einem neuen langjährigen Partnerland?

Die aktuelle Lage ist hochdramatisch. Sie lässt sich mit der Situation in Syrien vergleichen. Auch Syrien war vor Ausbruch des Krieges ein Land mit mittlerem Einkommen und gehörte deshalb aus guten Gründen nicht ins Portfolio der Welthungerhilfe. Aber heute zählt Syrien zu den Ländern, in denen wir auch in umkämpften Gebieten in großem Umfang helfen.

Humanitäre Hilfe soll unparteiisch und neutral sein. Ist das im völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg überhaupt möglich?

Das internationale humanitäre Völkerrecht wird in der Ukraine und in vielen anderen Konflikten mit Füßen getreten. Afghanistan, Syrien, Südsudan, Jemen … Diese Liste ließe sich leicht fortsetzen. In der Ukraine werden Menschen ausgehungert und zivile Helfer daran gehindert, Bedürftige zu erreichen. Es werden Evakuierungskorridore beschossen. Wir wissen, dass in Kriegen alle Parteien Propaganda einsetzen. Auch wir laufen Gefahr, Teil und Opfer dieser Propaganda zu werden. Die Kriegsparteien könnten uns beispielsweise vorwerfen, dass wir nur einer Seite helfen. Aber als humanitäre Organisation sind wir zur absoluten Neutralität verpflichtet. Uns geht es lediglich um die Bedürftigkeit der Menschen, nicht um Politik.

Durch den Krieg und die Sanktionen könnten auch Teile der russischen Bevölkerung verarmen. Muss die Welthungerhilfe bald auch in Russland Hilfe leisten?

Man sollte nie »nie« sagen, aber im Moment kann ich es mir einfach nicht vorstellen. Natürlich gibt es auch schon heute in Russland große Armut. Aber auf der anderen Seite ist Russland ein riesiges Land mit riesigen Ressourcen. Allerdings sind sie sehr ungleich verteilt.

Der Krieg führt nicht nur in der Ukraine und in Russland zu Hunger und Armut. Beide Länder waren bislang wichtige Getreide- und Speiseöl-Exporteure. Wird der Krieg jetzt weltweit zu Hungersnöten führen?

Die Gefahr besteht. Länder wie Ägypten, Kenia, der Südsudan, der Libanon und viele andere Staaten waren bislang direkt oder indirekt stark von russischen und ukrainischen Exporten abhängig. Diese Länder erhalten jetzt nicht die bestellten Mengen oder müssen dafür sehr viel mehr bezahlen. Schon vor dem Krieg waren die Lebensmittelpreise unter anderem aufgrund von Klimawandel, Konflikten, der Corona-Pandemie und Spekulationen auf den Weltmärkten auf einem Allzeithoch. Die durch den Krieg gestiegenen Energiepreise werden jetzt dazu führen, dass unter anderem die Bewässerung in der Landwirtschaft noch teurer wird. Das wird zu einem weiteren Anstieg der Lebensmittelpreise führen.

Wer wird darunter besonders leiden?

Arme Menschen, die einen hohen Anteil ihres verfügbaren Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Sie müssen häufig schon jetzt Mahlzeiten ausfallen lassen. Auch für Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe sind die gestiegenen Preise ein riesiges Problem. Für Verteilungen können wir nur noch geringere Mengen Lebensmittel kaufen. WFP, das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, hat deshalb bereits Rationen streichen müssen. Als das WFP 2015 in den Flüchtlingslagern für syrische Flüchtlinge Rationen streichen musste, war dies einer der Auslöser für die großen Flüchtlingsbewegungen nach Europa. Das sollten wir nicht vergessen.

Wie viele Menschen wird der Krieg in der Ukraine weltweit in den Hunger treiben?

Vor allem für Menschen, die schon vor dem Krieg unter Klimawandel, Konflikten und den Auswirkungen der Pandemie litten, kann die durch den Krieg ausgelöste Preissteigerung für Lebensmittel zur weiteren Katastrophe werden. Eigentlich mag ich das Wort Katastrophe nicht. Wie soll man Katastrophe steigern? Aber leider ist es so, dass man davon ausgehen muss, dass durch den Krieg noch mehr Menschen in eine katastrophale Situation geraten. Durch den Krieg in der Ukraine werden mehr Menschen in aller Welt hungern!

Wie viele?

Dazu gibt es unterschiedliche Prognosen. Die FAO, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, geht derzeit von acht bis 13 Millionen zusätzlichen Hungernden aus, das UN-Welternährungsprogramm prognostiziert, dass bis zu 47 Millionen weitere Menschen in Armut und Hunger abrutschen könnten.

In einer Krise kann ja auch eine Chance stecken. Die Welthungerhilfe arbeitet bereits seit vielen Jahren daran, die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von Lebensmittelimporten durch eine Steigerung der Produktion vor Ort zu senken. Kann der Krieg in der Ukraine dieser Bemühung neuen Schwung geben?

Der Krieg ist ein Weckruf in Ländern, die unter Hunger leiden, endlich eine nachhaltige landwirtschaftliche Produktion zu etablieren. Der Fokus muss darauf gelegt werden, ländliche Räume attraktiv zu machen, Infrastruktur auszubauen und mit Kleinbauern daran zu arbeiten, dass diese Länder sich selbst ernähren können. Wir arbeiten intensiv daran, dass Deutschland dabei auch im Rahmen seiner aktuellen G7-Präsidentschaft eine Führungsrolle übernimmt.

Doch was können humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit überhaupt ausrichten? Braucht es nicht zunächst diplomatische und politische Lösungen für die aktuellen Konflikte?

Natürlich ist es wichtig, mit UN-Missionen und dem gesamten diplomatischen Instrumentarium dauerhafte politische Lösungen zu finden. Aber das dauert seine Zeit. Solange dürfen Menschen in Not nicht im Stich gelassen werden, und die Gefahr von Rückschlägen darf kein Alibi für das Nichtstun sein.

Aber klebt die Entwicklungszusammenarbeit in Kriegs- und Krisengebiete nicht nur Pflaster auf blutende Wunden?

Natürlich ist es immer schöner, in einem befriedeten Land zu arbeiten, in dem sich alle gut verstehen. Aber das ist eine ideale Welt, in der die Welthungerhilfe nur sehr selten arbeitet. Wir sind leider vorwiegend in Ländern tätig, in denen es gewalttätige Konflikte gibt. Trotzdem müssen wir in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung immer wieder daran arbeiten, auch unter schwierigsten Bedingungen die unmittelbare Not zu lindern und mit mittel- und langfristigen Programmen Perspektiven zu schaffen. Auch in Kriegs- und Krisengebieten fallen ja nicht immer und überall Bomben. Auch in gefährlichen Gebieten kann man mit Projekten wie Küchengärten und Ernährungsberatung viel erreichen. Überall auf der Welt haben die Menschen großes Interesse daran, ihre eigene Situation zu verbessern.

In Anbetracht des Krieges in der Ukraine setzt jedoch nicht nur Deutschland derzeit eher auf Aufrüstung als auf einen Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit.

Ja, und das bereitet mir große Sorge. Auch Länder wie China, Indien und die Türkei rüsten gerade massiv auf. Im Moment haben leider die Falken die Oberhand und nicht die Tauben. Ich würde es gerne umgekehrt sehen. Ich halte die Rückbesinnung auf das Nationale für eine extrem traurige Entwicklung, die sehr, sehr schädlich für die menschliche Entwicklung ist. Wir brauchen gerade jetzt genau das Gegenteil. Wir brauchen mehr internationale Kooperation, um Lösungen für die großen Menschheitsprobleme wie Klimawandel, Konflikte, Pandemie und Bekämpfung des Hungers zu finden.

Was wünschen Sie sich in der aktuellen Situation von der Bundesregierung?

Mehr Geld, um unsere erfolgreichen Projekte in Anbetracht von immer mehr Menschen in Hunger und Not auch bei gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreisen fortsetzen und ausbauen zu können.

Der aktuelle Haushaltsentwurf sieht jedoch massive Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit vor.

Noch ist es nur ein Entwurf. Wir hoffen, die Bundesregierung umstimmen zu können. Die vorgesehenen Kürzungen würden mitten ins Herz der zivilgesellschaftlichen Arbeit treffen und mich auch persönlich maßlos ärgern. Sie würden ein fatales Signal senden. Deutschland und die Industriestaaten sind mit ihren Emissionen für einen Großteil des Klimawandels verantwortlich, der im Globalen Süden bereits jetzt massiv zu Armut und Hunger führt. Daraus ergibt sich eine Verantwortung. Deutschland und die Industriestaaten müssen deshalb ausreichend Mittel bereitstellen, um Hunger und Armut zu bekämpfen.

Die Zahl der Hungernden ist auch schon vor dem Krieg in der Ukraine massiv gestiegen. Sollte die Welthungerhilfe deshalb nicht auch über unkonventionelle und umstrittene Maßnahmen wie den Einsatz von genmanipuliertem Saatgut zur Hungerbekämpfung nachdenken?

Die Welthungerhilfe ist permanent auf der Suche nach neuen Lösungen. Dazu haben wir eigens eine Innovationseinheit gegründet. Mit ihr haben wir unter anderem den Child Growth Monitor entwickelt. Unter Zuhilfenahme von Künstlicher Intelligenz erlaubt er uns, Kleinkinder sehr schnell und sehr zuverlässig zu vermessen, um so Unter- und Fehlernährung festzustellen und vorzubeugen. Wir wissen aber auch: Technische Lösungen allein sind nicht der Schlüssel zum Erfolg.

Was ist mit genmanipuliertem Saatgut für dürreresistentere und ertragreichere Nutzpflanzen?

Hier muss man zwischen den Verfahren der sogenannten Genschere und der echten Genmanipulation unterscheiden. Dem Genscheren-Ansatz würde ich mich nicht grundsätzlich verschließen, wenn er Kleinbauern tatsächlich beim nachhaltigeren Anbau und der Reduktion des Pestizideinsatzes helfen kann. Aber ich glaube, da steckt die Forschung noch in einem sehr frühen Stadium. Außerdem müssen wir sicherstellen, dass verändertes Saatgut die Kleinbauern nicht in Abhängigkeiten von Saatgut‑, Dünger- und Pestizidherstellern führt.

Das wichtigste Ziel der Welthungerhilfe ist die Bekämpfung des Hungers. Auch das zweite nachhaltige Entwicklungsziel der UN sieht vor, den Hunger in aller Welt bis 2030 zu beenden. Glauben Sie, dass dieses Ziel noch zu erreichen ist?

Im Moment sieht es nicht gut aus. Ich glaube aber auch, dass man als Generalsekretär der Welthungerhilfe optimistisch bleiben und dafür kämpfen muss, dass das Ziel doch noch erreicht werden kann.

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