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»Die Bewegung ist nicht radikal genug«
Lili Kramer vom »What the Fuck«-Bündnis über die bisherigen und notwendigen Forderungen der Pro-Choice-Bewegung
Bald soll der Paragraf 219a abgeschafft werden, der das »Werben« für Schwangerschaftsabbrüche verbietet. Ist das ein Erfolg der deutschen Pro-Choice-Bewegung?
Die deutsche Pro-Choice-Bewegung gibt es so nicht, sondern das ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Bestrebungen. Es gab in den vergangenen Jahren eine starke Fokussierung auf die Abschaffung des Paragrafen 219a. Da gibt es nun Erfolge, das will ich gar nicht in Abrede stellen. Summa summarum würde ich aber sagen, die Bewegung ist nicht radikal genug. Also, warum gehen wir nicht an die Wurzel, an den Paragrafen 218 und daran, dass der Schwangerschaftsabbruch immer noch im Strafgesetzbuch steht?
Lili Kramer ist Mitglied des Bündnisses "What the Fuck". Als Teil der queerfeministischen Bewegung organisiert das Bündnis Proteste gegen Abtreibungsgegner*innen. Es setzt sich für ein Recht auf Abtreibung ein, betont aber auch eine notwendige Radikalisierung bisheriger Forderungen bezüglich körperlicher und reproduktiver Selbstbestimmung. Mit ihr sprach Birthe Berghöfer.
Gleichzeitig gelingt es der Pro-Choice-Bewegung in Deutschland nicht, die Kritik von Schwarzen Feministinnen und Feministinnen of Color aufzunehmen. Etwa, dass der Fokus auf Abtreibung nicht unbedingt etwas mit den Lebensrealitäten aller Menschen, die schwanger werden können, zu tun hat. Dass es nicht nur um das Recht gehen sollte, sich zu entscheiden, keine Kinder zu haben, sondern auch um das Recht, entscheiden zu können, Kinder zu bekommen. Die Bedingungen, unter denen Menschen Schwangerschaften austragen und Kinder großziehen, sind geprägt von sozialer Ungleichheit sowie rassistischen und neokolonialen Strukturen. Auch die Vernetzung mit Behindertenrechts-Aktivisten*innen gelingt kaum.
Was sind deren Anliegen?
In diesem Jahr wird der sogenannte nicht-invasive Pränataltest (NIPT) zur Kassenleistung, mit dem genetische Veränderungen wie Trisomie 13, 18 und 21 untersucht werden. Behindertenrechtsaktivist*innen kritisieren das stark, haben aber weder medial noch in der Bewegung wirklich Gehör gefunden. Dabei ist es doch krass, dass ein Test, der keinen medizinischen Nutzen hat, bei dem es im Grunde um Selektion geht, von der Krankenkasse übernommen wird – Schwangerschaftsabbrüche hingegen sind keine Kassenleistung, sondern immer noch illegal. Das ist einfach ein unglaubliches Missverhältnis.
Es geht der Pro-Choice-Bewegung nicht nur um ein Recht auf Abtreibung, sondern auch um die Entstigmatisierung. Dabei helfen Berichte Betroffener, die zeigen, wie schwer, aber vernünftig die Entscheidung angesichts der Umstände sein kann. Aber was, wenn die Entscheidung nicht schwer war? Schafft es die Bewegung, auch das als legitim darzustellen?
Wir sehen gerade jetzt, wo die Debatte durch den drohenden Fall des Roe v. Wade-Urteils in den USA aufgeflammt ist, viele Geschichten, die verdeutlichen, warum ein Recht auf Abtreibung wichtig ist oder warum es auch eine existenzielle Entscheidung sein kann. Das stimmt für viele Menschen, gleichzeitig tut es der Debatte nicht gut, keine Geschichten daneben existieren zu lassen: »Ich möchte gerade einfach nicht schwanger sein«, »Ich hätte ein Kind finanzieren können, aber es ist mein Leben und ich wollte es nicht« oder »Ich bin nicht traumatisiert von meiner Entscheidung und auch der Abbruch war nicht traumatisierend.« Man muss auch Ängste vor Schwangerschaftsabbrüchen nehmen und Mythen aufbrechen. Die gibt es gerade in Ländern, wo die Tabuisierung noch größer und die Kriminalisierung noch stärker ist. Aber auch in Deutschland hatten wir in der letzten Legislaturperiode mit Jens Spahn einen Gesundheitsminister, der eine Studie über die angeblich schlimmen psychischen Folgen von Abbrüchen angestrengt hat.
Muss die Pro-Choice-Bewegung an den moralischen Status von Abtreibungen ran?
Auf jeden Fall. Letzten Endes ist ein Schwangerschaftsabbruch eine gesundheitliche Entscheidung, die den eigenen Körper betrifft, und genau als das sollten wir es auch beschreiben. Es reicht nicht, nur zu argumentieren, dass es bestimmte Situationen gibt, die einen Abbruch erfordern. Es muss klar sein: Das ist mein Körper, meine Entscheidung.
Wo steht die Bewegung derzeit und wo muss sie hin?
Gerade geht es wie gesagt um den Paragrafen 219a, manchmal noch um die Abschaffung des Paragrafen 218. Es ist ganz wichtig, dass der auch abgeschafft wird, denn ob Abbrüche im Strafgesetzbuch stehen, hat Auswirkungen auf die Versorgungslage und auf die Ausbildung von Mediziner*innen. Aber die Bewegung braucht auch Forderungen, die darüber hinausgehen: eine neu geregelte Versorgung beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, damit der für alle möglich ist, und die Übernahme der Kosten von den Krankenkassen. Insofern muss sich die deutsche Pro-Choice-Bewegung radikalisieren.
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