Hallo Mutter, bitte helfen

Keine Überraschung: Das Kalush Orchestra aus der Ukraine hat den Eurovision Song Contest in Turin gewonnen

  • Jens Buchholz
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Ende hat das Kalush Orchestra aus der Ukraine mit seinem Titel »Stefania« den 66. European Song Contest (ESC) in Turin gewonnen. Der Titel ist eine gelungene Mischung aus ukrainischer Folklore, Rap und Electro. Nach der Punktevergabe der Jurys lag noch der Brite Sam Ryder vorn. Erst das Votum des Fernsehpublikums katapultierte den ukrainischen Titel uneinholbar an die Spitze der Wertung. Die Wettanbieter hatten es bereits mit 60-prozentiger Sicherheit prophezeit.

Unter ESC-Fans und Experten war das nicht unumstritten. Denn das Reglement des Ausrichters European Broadcast Union (EBU) schreibt vor, dass die Beiträge keine politischen Inhalte transportieren dürfen. Im letzten Jahr wurde deshalb der Beitrag aus Belarus ausgeschlossen. Der Song verhöhnte die belarussische Widerstandsbewegung gegen Präsident Lukaschenko. In diesem Jahr durfte Russland wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine nicht teilnehmen.

»The Sound of Beauty« war das Motto, das Spektakel entsprechend gigantisch. Die Live-Regie dagegen gigantisch schlecht. Sam Ryders hervorragender Song »Space Man« lehnt sich eng an Queen, Elton John und vor allem David Bowie an. ESC-Titel sind ja oft Klone aktueller Trends, aber in diesem Jahr gab es erstaunlich häufig Songs mit einem eigenen kreativen Profil. Allen voran die serbische Rapperin Konstrakta, die mit ihrer an Marina Abramović angelehnten Performance zu ihrem Song »In Corpore Sano« überraschend auf Platz 5 gelandet ist.

Auf Platz 3 lieferte die Spanierin Chanel mit ihrem Titel »SloMo« dagegen typische ESC-Klonware. Ebenso wie die Schwedin Cornelia Jakobs, die mit »Hold me closer« auf Platz 4 den Celine-Dion-Ehrenpreis verdient hätte, wenn es ihn gäbe. Die als Wölfe verkleideten Norweger Subwoolfer lieferten mit »Give that Wolf a Banana« den erwartbaren, aber sympathischen ESC-Trash und erreichten damit Platz 10. Insgesamt gab es wenig Over-the-Top-Choreografie und dafür viele Tränen-Drüsen-Power-Balladen. Lobend erwähnen in diesem Zusammenhang muss man die niederländische Sängerin S10 mit ihrem unglaublichen Ohrwurm »De Diepte«. Öde wie immer war die Punktvergabe. Manchmal wusste man nicht, ob die Moderator*innen eine spannungsaufbauende Kunstpause machten oder ob sie eingeschlafen waren und deshalb nicht mit den Punkten herausrückten.

Der Sieger-Song des Kalush Orchestra ist offiziell der Mutter des Band-Sängers Oleh Psjuk gewidmet. Allerdings enthält er viele Metaphern, die man auch als Bericht über ein Land im Krieg deuten kann. Vor allem, wenn man weiß, dass in Osteuropa die Heimat als »Mutter« bezeichnet wird. »Helft der Ukraine, Mariupol und den Menschen im Asow-Stahlwerk«, rief Psjuk nach seinem Auftritt dem Publikum zu. Damit verstieß er gegen die Regeln. Die Veranstalter reagierten mit Nachsicht.

Die komplette Veranstaltung stand im Zeichen des Krieges gegen die Ukraine. Eröffnet wurde die Fernsehübertragung mit einer bombastischen Version von John Lennons Song »Give Peace a Chance«. Moderatorin Laura Pausini rief den Zuschauer*innen zu: »Everybody wants peace!« In fast allen Ländern wurde in der Publikumsabstimmung die Höchstpunktzahl an den ukrainischen Beitrag vergeben. Ein Votum, mit dem sich die mehr als 200 Millionen Fernsehzuschauer*innen mit der Ukraine solidarisch erklärten. Die Pop-Uno hat damit ihre Antikriegsresolution beschlossen. »Dieser Sieg«, erklärte der bewährte deutsche ESC-Kommentator Peter Urban, »ist ein Sieg der Ukraine.« Der ESC wird im nächsten Jahr also in der Ukraine stattfinden und mit Sicherheit ein Politikum werden.

Das Musikgewerbe ist immer dann besonders politisch, wenn es das ausdrücklich nicht sein will. Schon in den 60er Jahren gab es beim ESC Proteste gegen den spanischen Diktator Franco. Nicole sang 1982 verklausuliert gegen die atomare Hochrüstung in Europa an. Aber auch gesellschaftspolitisch war der ESC bedeutsam, weil er sich auch für queere Personen öffnete. 1998 gewann mit der israelischen Sängerin Dana International erstmals eine Transperson. Und auch in diesem Jahr wurde beim ESC wieder viel mit Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern gespielt.

Den Eurovision Song Contest gibt es seit 1956, damals noch unter dem klangvollen Namen Grand Prix Eurovision de la Chanson. Seit 2001 heißt der Wettbewerb Eurovision Song Contest. Die teilnehmenden Länder müssen Mitglied der European Broadcast Union (EBU) sein. Neben den meisten europäischen Ländern gehören dazu auch Australien und zahlreiche nordafrikanische und kleinasiatische Länder. Mit Ausnahme Israels haben diese bisher aber noch nie teilgenommen. Als Teilnehmer immer gesetzt sind die »großen Fünf«: Deutschland, Großbritannien, Spanien, Frankreich, Italien plus der Sieger des letzten Jahres. Diese Länder bieten die größten Märkte und tragen die Kosten des Spektakels.

Zweimal gewannen bisher deutsche Beiträge: 1982 die Sängerin Nicole. 2010 holte die charismatische Lena mit dem Song »Satellite« den Sieg. Seither sah es mittelmäßig bis düster aus. Auch diesmal landete der Sänger Malik Harris mit seinem schönen Song »Rockstars« auf dem letzten Platz.

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