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Kindesmissbrauch ist immer noch ein Tabu. Die neue Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung will dagegen mit einer Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne ankämpfen
Ein bis zwei Kinder pro Schulklasse in Deutschland haben, laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren. Insgesamt bis zu einer Million Kinder. Kerstin Claus, die neue Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), stellte am Dienstag während ihrer Antritts-Pressekonferenz im Bundesfamilienministerium ihre Ziele für die kommenden zwei Jahre vor. Claus hat ihr Amt am 1. April von Johannes-Wilhelm Rörig übernommen und wird es planmäßig die nächsten fünf Jahre ausfüllen.
Ein zentrales Thema ihrer Amtszeit wird es sein, die Perspektiven der Betroffenen zu stärken und die Sensibilisierung in der Gesellschaft voranzubringen: »Meine Botschaft ist klar: Ich kämpfe dafür, sichtbar zu machen, dass sexueller Missbrauch jede und jeden angeht. Wir alle gemeinsam tragen eine persönliche, gesellschaftliche oder politische Verantwortung, die wir nicht weg delegieren dürfen«, sagte Claus. Die 53-Jährige ist die erste Person in diesem Amt, die offen über ihre eigene Missbrauchserfahrung spricht. 2010 machte sie ihren eigenen Missbrauch durch einen evangelischen Pfarrer in den 80er Jahren öffentlich. Der Täter wurde nie strafrechtlich verfolgt, sondern lediglich versetzt. In der Vergangenheit machte sich die verheiratete Mutter von zwei Kindern daher insbesondere für eine unabhängige Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche stark. Ihr Engagement ist jedoch keinesfalls darauf beschränkt. »Meine Berufung zeigt gleichermaßen, was erreicht wurde und wo wir gesellschaftlich hinkommen sollten«, so Claus.
Geht es nach Claus, soll der Schutz vor sexueller Gewalt fest in den Biografien der Kinder verankert sein, angefangen bei Geburtsvorbereitungskursen. Schutzräume brauche es analog und digital. Denn in der heutigen Zeit nutzen Täter*innen etwa die Chatfunktion von Spielen, um sich Kindern zu nähern. Sie kritisierte, dass die mediale Berichterstattung sich vor allen auf die Kirchen und jetzt auch vermehrt auf den Sport konzentriere. Es müssten jedoch alle Tatorte gesehen werden und damit auch der Tatort Familie. »Wir alle müssen lernen, für möglich zu halten, dass sie in unserem ganz persönlichen Umfeld stattfindet, dass wir alle mit großer Wahrscheinlichkeit betroffene Kinder und wahrscheinlich auch Täter und Täterinnen kennen. Nur wer das begreift, wird Missbrauch wahrnehmen, sich zuständig fühlen und bereit sein zu handeln«, sagte Claus. Um das Bewusstsein dafür in der Gesellschaft zu stärken, will sie im Herbst zusammen mit dem Familienministerium eine Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne zu sexuellem Kindesmissbrauch starten.
Am Dienstag betonte sie außerdem die Relevanz starker Netzwerke, Schutzkonzepte vor Ort und verlässlicher Hilfen, die Betroffenen über die gesamte Lebensspanne niedrigschwellig zur Verfügung stehen. Hierfür müssten diejenigen gestärkt werden, die sich vor Ort gegen sexuelle Gewalt engagieren: die Beratungsstellen, die Kinder- und Jugendhilfe, die Ermittlungsbehörden und auch Ausbildungseinrichtungen. Um entschieden handeln zu können, ist es wichtig, zunächst den Status quo zu kennen. Zu diesem Zweck plant sie, genaue Daten zu erheben: »Es ist ein Skandal, dass wir selbst im Jahr 2022 noch immer keine verlässlichen Zahlen zum Ausmaß von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche haben. Und das, obwohl wir wissen, dass die in den verschiedenen Systemen erfassten Fälle, das Hellfeld, nur ein Bruchteil der tatsächlichen Zahlen darstellt.« Als beim Bundesfamilienministerium angebundene Unabhängige Beauftragte ist Claus nicht weisungsgebunden.
Vor Amtsantritt war Claus in der Politik- und Strategieberatung im Themenbereich sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aktiv. Seit 2016 wirkte sie im Betroffenenrat mit und beriet damit auch ihren Vorgänger. Der Rat begrüßte die Entscheidung für Claus, welche »die jahrelange Arbeit von Betroffenen sowie ihre vielfältigen Kompetenzen noch sichtbarer« mache. Der Rat werde Claus »als leidenschaftliche Mitstreiterin – immer parteiisch für die Bedürfnisse und Belange von Betroffenen« vermissen: »Wir werden gemeinsam nicht schweigen,« hieß es in dem Statement.
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