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Von Weizen bis Kabelbäumen
Alternative Ökonomen zu den Auswirkungen des Ukraine-Kriegs nicht nur auf Deutschland und die EU
Am 24. Februar 2022 fielen russische Truppen in die Ukraine ein. Seitdem werden wir in unseren Grundfesten erschüttert. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bringt verheerende Folgen.
Das Land hatte seit Beginn des neuen Jahrtausends eine beachtliche gesamtwirtschaftliche Dynamik gezeigt. Seit 2014 ist diese Erfolgsgeschichte unterbrochen. Im Gefolge der politischen Instabilitäten schrumpfte im Jahr 2015 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um knapp zehn Prozent. Der anschließende Aufschwung fiel verhalten aus; in der Pandemie kam es zu einem weiteren gesamtwirtschaftlichen Einbruch. Im Jahr 2021 lag das Pro Kopf BIP bei 4830 US-Dollar. Bei einer Bevölkerung von etwa 42 Millionen Menschen betrug der ukrainische Anteil am weltweiten BIP im Jahr 2021 weniger als 0,4 Prozent.
Die Infrastruktur, die Industrie und der Kapitalstock des Landes werden gerade brutal zerstört. Für 2022 rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) aktuell mit einem kriegsbedingten Schrumpfen des BIP um 35 Prozent – hierin sind die aktuellen Folgen der Kriegsentwicklung noch nicht eingeschlossen. Dies ist eine Katastrophe. Für das im internationalen Vergleich ohnehin arme Land wäre selbst bei einem sofortigen Frieden eine verheerende gesamtwirtschaftliche Rezession zu erwarten.
Für das Jahr 2022 geht der IWF von einem Schrumpfen des russischen BIP um 8,5 Prozent aus. Dabei sind die Folgen des Krieges und der Sanktionen gegen das Land noch nicht vollständig berücksichtigt; andere Schätzungen gehen von einem Rückgang um 15 Prozent aus. Die russische Regierung mutet ihrer Bevölkerung eine massive Verarmung zu. Russland ist durch seine Rohstofflieferungen weitgehend vom Weltmarkt abhängig. Einen erheblichen Anteil haben die Exporte fossiler Energieträger. Sie machen etwa 50 Prozent des russischen Außenhandels aus. Die Einnahmen aus dem Öl und Gasgeschäft spielen eine wichtige Rolle bei der Finanzierung des öffentlichen Haushalts.
Als Reaktion auf die russische Aggression verhängten viele Staaten scharfe Sanktionen gegen
Russland, allen voran die USA und die EU. Russische Konten, auch die der Zentralbank, wurden weitgehend gesperrt, und der russische Finanzsektor wurde mit einem Ausschluss vom Swift-Abkommen von den internationalen Finanzmärkten abgetrennt. Viele Staaten haben den Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt, ebenso ihre Häfen für russische Schiffe. Der Export vieler Waren nach Russland, vor allem von Hochtechnologie, wurde verboten. Zudem haben viele Unternehmen über die gesetzlichen Sanktionen hinaus ihre Wirtschaftsverbindungen zu Russland gekappt. Russische Fabriken in ausländischem Besitz haben weitgehend ihre Produktion eingestellt. Alles deutet jedoch darauf hin, dass Sanktionen die russische Regierung kurzfristig nicht zum Stopp des Krieges bewegen werden. Dennoch ist es geboten, den von der EU beschlossenen Sanktionskatalog gezielt zu verschärfen.
Weltweite Abhängigkeiten
Viele Trends, die wir im Memorandum 2022 beschreiben und analysieren, werden durch die aktuellen Ereignisse erheblich verstärkt. In der aktuellen politischen Debatte ist viel von einer Zeitenwende die Rede. Davon ist in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bisher noch vergleichsweise wenig zu spüren, doch noch lassen sich die Auswirkungen nicht voll erfassen.
Die eher geringen Anteile Russlands und der Ukraine an der weltweiten Wertschöpfung können dabei nicht das entscheidende Kriterium sein. Denn es gibt eine Reihe von wichtigen Rohstoffen, bei denen Russland einen erheblichen Weltmarktanteil aufweist. Vor allem Europa ist bisher in hohem Maße vom Import von Kohle, Erdöl, Erdgas und Brennelementen für Atomkraftwerke abhängig. Kohle und Erdöl lassen sich noch relativ gut auf dem Weltmarkt ersetzen, für Erdgas gilt das hingegen nicht.
Die Auswirkungen ausfallender Nahrungsmitteltransporte werden dramatisch sein. Es droht eine Zunahme des Hungers in der Welt. Fast ein Drittel der weltweiten Weizenexporte kommen aus Russland und der Ukraine. Die nächste Ernte in der Ukraine wird durch den Krieg schwer beeinträchtigt, und Russland hat den Export eingestellt. Auch Gerste und Speiseöle kommen im erheblichen Umfang aus diesen Ländern. Russland ist auch ein wichtiger Produzent von Kunstdünger. Die arabische Welt ist als großer Importeur russischer Lebensmittel besonders betroffen. Auch bei wichtigen Metallen ist Russland ein bedeutender Lieferant. Mehr als 40 Prozent der weltweiten Exporte von Chrom, Rohstahl, Raffinadekupfer und Palladium stammen aus Russland. Die Ukraine ist zudem für Deutschland ein wichtiger Produzent von industriellen Vorprodukten. Bekanntestes Beispiel sind die Kabelbäume, deren Fehlen große Teile der deutschen Autoindustrie stillgelegt hat und die kurzfristig nicht zu substituieren sind.
Russland hat seine langfristigen Lieferverträge für Öl und Gas bisher in vollem Umfang erfüllt. Allerdings haben russische Energiefirmen seit dem vergangenen Jahr ihre Angebote auf den Spotmärkten künstlich verknappt und ihre Speicher in Europa kaum gefüllt. Dies und die Erwartung weiterer Knappheiten haben die Energiepreise stark nach oben getrieben und bieten nun die Basis für Spekulationen. Das heißt aber auch, dass an den hohen Preisen kräftig verdient wird, es also Gewinner dieser Entwicklung gibt. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert Maßnahmen, um diese Spekulation einzudämmen. Das können beispielsweise begrenzte Preiskontrollen für Ölprodukte und Gas sein. Solche Regelungen müssen schnell umgesetzt werden. Auch kartellrechtliche Eingriffe sollten eingeleitet werden. Schnelle Hilfe ist dabei nicht zu erwarten, da die entsprechenden Verfahren langwierig sind.
Ausbauen und einsparen
Klar ist, dass sich angesichts des Krieges und der Sanktionen die wirtschaftlichen Aktivitäten
in Deutschland abschwächen. Zusammen mit den stärker steigenden Preisen kommt es zu stagflationären Tendenzen. Die wirtschaftliche Erholung nach der Coronakrise wird zäher und dauert länger. Insgesamt kann die deutsche Ökonomie die Situation mit fehlenden Rohstoffen und Vorprodukten bisher aber noch einigermaßen verkraften.
Die Energiewende erhält durch den russischen Angriffskrieg eine neue Dringlichkeit. Was aus Einsicht in die Notwendigkeit zur Vermeidung einer Klimakatastrophe nicht schnell genug zu funktionieren scheint, könnte jetzt zur Verringerung der Energieabhängigkeit von Russland gelingen. Mit dem sogenannten Osterpaket will die Bundesregierung den Ausbau von Erneuerbaren Energien vorantreiben. Viele der einzelnen Maßnahmen, wie die Vereinfachung von Genehmigungsverfahren, sind sinnvolle Schritte in die richtige Richtung. Hingegen werden bestimmte Maßnahmen, die auf die Senkung der Nachfrage zielen – wie etwa ein allgemeines Tempolimit –, aus rein ideologischen Gründen durch die FDP blockiert. Ob die geplanten Maßnahmen ausreichen, um den Ausbau der Erneuerbaren im notwendigen Ausmaß voranzutreiben, bleibt daher abzuwarten.
Generell fehlt eine Energiesparoffensive, die rund zehn Prozent Energieeinsparung relativ zügig realisieren könnte. Eine ökologische Energiewende funktioniert nicht nur mit dem Ausbau von Solar und Windenergie. In allen Bereichen der Gesellschaft, im Verkehr, beim Wohnen, in der industriellen Produktion und beim Konsumverhalten muss der sozial-ökologische Umbau vorangetrieben werden. Dadurch lässt sich Energie in großem Umfang einsparen und ein hoher Anteil Erneuerbarer Energien schneller, kostengünstiger und gesellschaftlich akzeptierter erreichen.
Allerdings darf man sich dabei keinen Illusionen hingeben. Auch ein solcher Weg würde Jahre beanspruchen und wegen der differenzierten Abhängigkeiten keine schnellen Lösungen bieten. Wie im Memorandum 2022 dargestellt wird, würde eine solche Entwicklung auch nicht zu einer Energieautarkie führen. Deutschland wird dauerhaft auf Energieimporte (vor allem von grünem Wasserstoff) angewiesen sein. Die Importabhängigkeit würde mit dieser Strategie allerdings quantitativ geringer sein als bei fossilen Energien und sich bei vorsorgender Diversifizierungspolitik nicht mehr auf wenige Länder konzentrieren.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (auch Memorandum-Gruppe) wurde 1975 in der Bundesrepublik von linken Ökonomen wie Jörg Huffschmid, Rudolf Hickel und Herbert Schui gegründet. Sie veröffentlicht jedes Jahr im Frühjahr ein als Memorandum bezeichnetes sozialkritisches Gutachten zur wirtschaftlichen Lage. Kürzlich legte sie in Ergänzung zum Memorandum 2022 eine Stellungnahme zum Krieg gegen die Ukraine vor, aus dem wir hier einige Passagen dokumentieren. Der gesamte Text ist nachlesbar im Internet unter www.alternative-wirtschaftspolitik.de.
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