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Geliebter Feind
Benjamin Lapp ist Legastheniker und Poet. Seine Gedichte erscheinen in einem Sammelband. Dabei traute man ihm noch nicht mal die Grundschule zu.
Wenn Benjamin Lapp über sein Verhältnis zu Wörtern und Sprache nachdenkt, schließt er die Augen. Sehr lange, als würde er sich, was er sagen will, als Bild ins Dunkel projizieren, bevor seine Gedanken ihren Weg hinausfinden. Er spricht leise, aber nicht unsicher. Vielmehr merkt man den Sätzen an, dass er über sie nachgedacht hat. Dabei müssten Wörter eigentlich Lapps größte Feinde sein. Aber statt sich wegzuducken, stellt er sich ihnen entgegen. Lapp ist Legastheniker und Lyriker. Er hat den Hochschulabschluss geschafft. In der Pandemie veröffentlichte er einen Gedichtband. Er wird zu Poetry Slams eingeladen, zum Beispiel nach Wien. Eins seiner Gedichte hat es in die »Frankfurter Bibliothek – Jahrbuch für das neue Gedicht 2020« geschafft, herausgegeben von der angesehenen Brentano-Gesellschaft.
Überall Lehrerrot
Lapp und seine Liebe zur Sprache, eigentlich müsste das eine sehr komplizierte Beziehung sein. In der Schule hatte ihm eine Lehrerin mal gesagt, dass sie den Eindruck habe, Deutsch sei nicht seine Muttersprache. Aufsätze und Diktate bekam er korrigiert zurück, und während die Blätter seiner Tischnachbar*innen meist mit ein paar roten Anmerkungen versehen waren, war bei Lapps Text vor lauter Lehrerrot kaum noch was von seinem blauen Füller zu sehen. »Die Legasthenie hat ja nicht gereicht, wenn du dann auch noch sehr introvertiert bist, dann hast du es doppelt schwer.«
Wenn Lapp, der in den späten 1980er und frühen 90er Jahren in Hessen zur Schule ging, heute über seinen Bildungsaufstieg spricht, dann ist dabei viel Beschwichtigendes. Er habe auch Lehrer*innen gehabt, die ihn danach bewerteten, was er aussagen wollte, nicht, wie er es aufschrieb. Er habe sich nun mal mehr anstrengen müssen als andere und sei schon froh gewesen, wenn unter einer Klassenarbeit statt einer fünf mal eine vier stand. Im gesamten Schulsystem wurde ihm nie eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) attestiert. Einen Nachteilsausgleich, wie es ihn heute für Legastheniker*innen gibt, bekam er nicht. Dabei bekommen Schüler*innen mehr Zeit für eine Klassenarbeit, ihnen werden die Fragen vorgelesen oder sie dürfen die Aufgaben am Computer mit Hilfe einer Rechtsschreibkorrektur schreiben. In manchen Bundesländern gibt es Notenschutz, bei dem die Rechtschreibung nicht bewertet wird. »Da meine Eltern von den Lehrern gefordert hatten, mich wie jeden anderen zu behandeln, taten die das auch«, sagt Lapp.
Bei vielen Kindern wird eine LRS in der zweiten Klasse erkannt, wenn die ersten nicht geübten Diktate geschrieben werden. »Bei einigen, die gut auswendig lernen können, fällt eine Legasthenie noch viel später auf«, sagt Annette Höinghaus vom Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie. Dass jemand wie Benjamin Lapp von der Grundschule bis zum Hochschulabschluss nie mit einer LRS diagnostiziert wird, sei aber auch heute nichts Ungewöhnliches, sagt sie. Je nachdem wie die Klasse zusammengesetzt sei, gingen die Lehrer*innen oftmals davon aus, dass es sich um Lernschwierigkeiten handele. »Kinder mit LRS fallen nicht auf, wenn das Leistungsniveau der Klasse insgesamt niedrig ist, wenn zum Beispiel viele Kinder die deutsche Sprache noch lernen müssen oder aus Haushalten kommen, in denen nicht viel vorgelesen oder generell gelesen wird«, so Höinghaus. Dabei sei eine Legasthenie keinesfalls gleichzusetzen mit einer Intelligenzminderung. »Menschen mit LRS haben die gleiche Normalverteilung in der Begabungsstruktur wie andere Menschen auch«, sagt sie.
Texte als Brei aus Buchstaben
Legasthenie hat auch genetische Ursachen. Bestimmte Synapsen im Sprachzentrum des Gehirns sind dabei nicht ausreichend vernetzt. Eine LRS gibt es daher in unterschiedlichen Ausprägungen und Schweregraden. Manchen Menschen fällt nur das Lesen schwer, anderen nur die Rechtschreibung, wieder anderen beides. Allen gemein ist jedoch, dass der Teil des Gehirns, wo Worte als Laute und Buchstaben abgespeichert werden, beeinträchtigt ist. Das Gehirn bekommt es nur schwer hin, Laute mit konkreten Buchstaben in Verbindung zu bringen und andersherum. Laut Weltgesundheitsorganisation sind fünf bis zehn Prozent aller Menschen Legastheniker*innen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine LRS vererbt wird, liegt bei über 50 Prozent. »Am deutlichsten fällt eine LRS auf, wenn in einem Diktat das gleiche Wort immer wieder anders falsch geschrieben wird«, sagt Höinghaus. Benjamin Lapp sagt, er nehme einen Text als enormen Brei aus Buchstaben wahr. »Mir wurde beim Lesen immer gesagt, ich soll auf die Betonung der Wörter achten, dabei war das viel größere Problem, überhaupt die Buchstaben zu erkennen.« Ihm sei klar, dass ein »g« anders klingt als ein »k«, aber wenn er einen Text vor sich sieht, erkennt er keinen Unterschied zwischen den Buchstaben. Wörter habe er anfangs wie eine Matheformel auswendig gelernt. Teilweise saß er bis spät in die Nacht hinein, um Hausaufgaben fertig zu schreiben und Texte zu lesen, wofür andere nur einen Bruchteil der Zeit brauchten.
Der Brite Daniel Britton, selbst Legastheniker, entwickelte vor Jahren die Schriftart »Dyslexia«, um Nichtlegastheniker*innen deutlich zu machen, wie Menschen mit LRS einen Text wahrnehmen. Dabei nahm er die Schriftart Helvetica und entfernte bei jedem Buchstaben 40 Prozent der Linien. Ein Text ist nun für Nichtlegastheniker*innen immer noch lesbar, aber es ist sehr anstrengend, die Buchstaben zu entschlüsseln. Bis man den Text komplett erfasst hat, vergeht eine gefühlte, frustrierende Ewigkeit.
Höinghaus sagt, wissenschaftliche Studien belegen, dass über 40 Prozent aller Kinder mit LRS psychosomatische Folgesymptome aufweisen. Das heißt, wer in der Schule wegen seiner Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben auffällt, entwickelt nicht selten Schulangst, hat mit Bauchschmerzen, Essstörungen oder Depressionen zu tun. In seltenen Fällen kam es sogar zum Suizid.
»Man erwartete von uns eh nichts«
Der Umgang mit Legasthenie ist kein Bestandteil der Lehrer*innenausbildung. Fast überall fehlt es an Grundschullehrer*innen, weshalb abseits des Regelunterrichts keine Zeit für Einzelfälle ist. Hinzu kommt, dass eine Förderung der Kinder nur dann vom Jugendamt übernommen wird, wenn bereits eine seelische Beeinträchtigung aufgetreten ist oder droht. »Es ist doch fatal, dass erst Hilfen greifen, wenn ein Kind schon seelischen Schaden genommen hat und es ansonsten vom Geld der Eltern abhängt«, sagt Höinghaus.
Hätten Benjamin Lapps Eltern auf seine Erzieher*innen gehört, er wäre nach dem Kindergarten auf die Sonderschule gegangen. Die Pädagog*innen waren der Meinung, er sei mit der deutschen Sprache schlicht überfordert. Aber seine Eltern geben nichts auf die Meinung anderer und schicken ihren Sohn trotzdem auf die Grundschule. Später wechselt er auf die Hauptschule. Hier fühlt er sich in einem Schulkontext das erste Mal wohl. Der Druck ist auf einmal weg. »Man erwartete von uns eh nichts und traute uns auch nicht viel zu. Wir konnten nur gewinnen«, sagt Lapp. Auf einmal gehört er zu den besseren in der Klasse. Bereits in der Grundschule hatte Lapp das Lernen gelernt, brauchte viel länger, um Texte zu verstehen, paukte Wörter wie Vokabeln, saß bis abends mit dem Wörterbuch in seinem Zimmer, um Texte, die er im Kopf schon fertig hatte, zu Papier zu bringen und nun kommen andere auf ihn zu und wollen die Hausaufgaben abschreiben. »Das ließen sie dann aber schnell wieder sein, weil sie meine Texte nicht entziffern konnten.«
Nach der Hauptschule beginnt Lapp eine Lehre als Schreiner. Einen Zollstock ablesen kann er, das Einmaleins ist kein Problem für ihn. Er ist fleißig und zuverlässig. Als die Auftragslage immer schlechter wird, will er als Übergangslösung die Mittlere Reife nachholen und ist Zweitbester seines Jahrgangs. Danach arbeitet er kurzzeitig bei der Müllabfuhr. Aber auf einmal träumt er groß: »Ich wollte Abitur machen.« Die Anmeldefrist zögert er trotzdem bis zum letzten Tag hinaus. Sein Respekt vor diesem Schritt ist riesig. »Ich wäre der erste in der Familie gewesen, der immerhin mit dem Abitur angefangen hat«, sagt Lapp und muss lachen. Er besteht und in dieser Zeit verliebt er sich in südamerikanische Literatur. Er liest Neruda und Gioconda Belli. »Der Klang dieser Sprache war für mich magisch«, sagt Lapp und fängt an, auch auf Deutsch immer selbstbewusster mit ihr umzugehen. In seinen Texten benutzt er Fremdwörter und solche, die er früher aus Angst, einen Fehler zu machen, vermieden hat. Er fängt an, Gedichte zu schreiben. Benjamin Lapp, der Legastheniker, liebt es, Gedichte zu schreiben. »Ich habe immer einen Schreibblock dabei, um mir Notizen zu machen. Abends nehme ich mir mein Wörterbuch und schreibe die Texte ab, wenn ich denn meine eigenen Wortkreationen entziffern kann.«
Seine Legasthenie hat sich nie verbessert, dabei schickten ihn seine Eltern anfangs noch zu Therapeut*innen und Nachhilfe. Er hat gute und schlechte Tage, sagt Lapp. Tage, an denen er sich mal besser und mal schlechter konzentrieren kann. Inzwischen hat er sogar ein Studium abgeschlossen und ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Lateinamerika.
Unter den Promis bekennt sich nur Ramelow zu seiner Legasthenie
Höinghaus erwähnt eine Umfrage ihres Verbandes, in der Legastheniker*innen angeben sollten, ob sie den Abschluss geschafft haben, den sie sich gewünscht hätten. Über die Hälfte hat das nicht geschafft. Benjamin Lapp ist also eine Ausnahme. Und auch sonst gibt es nur wenige Vorbilder, denn immer noch würden sich zu wenige öffentlich trauen, zu sagen, dass sie eine Lese-Rechtschreibschwäche haben, sagt Höinghaus. Das Stigma, als faul oder dumm zu gelten, ist groß. Unter den Promis ist Bodo Ramelow der einzige in Deutschland, der sich zu seiner Legasthenie bekennt. Er bekam erst mit 19 Jahren die Diagnose LRS. Die Höchststrafe für Ramelow seien stundenlange Regierungserklärungen, sagte er mal in einem Interview. Hier wählt er nicht seine eigenen Worte, sondern trägt einen zwischen allen Ministerien abgestimmten Bericht vor. Hört man sich diese Reden an, ist seine LRS quasi unsichtbar. Eine über Jahrzehnte trainierte Begabung im Auswendiglernen helfe ihm, sagt Ramelow.
Diesen Ehrgeiz, sich nichts anmerken zu lassen, es genauso weit oder weiter zu schaffen wie andere, die nicht auf einem der hintersten Startplätze in der Schule loslaufen mussten, den kennt Benjamin Lapp auch. Sein Lieblingswort ist Zweisamkeit. Und, sagt er, er könne es sogar auf Anhieb richtig schreiben.
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