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Von Blut und Erbrochenem
In Cannes feiert »Crimes of the Future« von David Cronenberg Premiere und ist dabei gar nicht der Schockerfilm, der er sein möchte. Das übernimmt Ali Abbasis »Holy Spider« für ihn
Das Cannes-Filmfestival geht in die zweite Hälfte, und der Wettbewerb hat schon jede Menge extremer, provokativer und verrückter Szenen erlebt: politische Kotze, erotische Wunden, religiöse Morde – mal mit Ironie, mal mit Fantasie und mal mit roher Gewalt.
Vor allem ist David Cronenberg wieder da! Der Kanadier präsentiert nach acht Jahren (das letzte Mal war er mit »Maps to the Stars« 2014 in Cannes) nun mit seinem neuen Werk »Crimes of the Future« mit Starbesetzung – unter anderem Viggo Mortensen, Léa Seydoux und Kristen Stewart – eines der Highlights des diesjährigen Wettbewerbs. In diesem Science-Fiction- und Body-Horror-Film, der am Montagabend seine Premiere feierte, wird eine Zukunft gezeigt, in der menschliche Körper neue Transformationen und Mutationen durchlebt haben. Infolgedessen können die Menschen etwa keine körperlichen Schmerzen mehr empfinden. Schlimm? Manche finden ja. So gibt es eine neue Sehnsucht nach Schmerz: Sich Wunden in der Haut zuzufügen, ist der neue Hype. Und aneinander Operationen durchzuführen der neue Sex. Nur die Ämter und die Aktenordner sind in dieser Zukunft immer noch »altmodisch« und verstaubt. Allein, dass sogar in der Fantasiewelt von jemandem wie Cronenberg, der keine Grenzen kennt, die Bürokratie immer noch so aussieht, wie wir diese kennen, ist schon erschreckend genug; die anderen dystopischen Elemente kommen einem im Vergleich dazu eher lustig vor.
Saul Tenser (Viggo Mortensen) ist ein Performance-Künstler, dessen Körper ständig neue Organe produziert: Innere Schönheiten, wie es heißt. Er lässt diese Organe in Live-Shows von seiner Partnerin Caprice (Léa Seydoux) herausoperieren – ja, fast alle können in dieser Zukunftswelt chirurgische Eingriffe ausführen. Die OPs sind erotisch, obwohl computerassistiert, und sein Schmerz ist Conceptual Art. Und da jede Welt neben lauter Künstler*innen scheinbar noch Beamt*innen braucht, gibt es eine Bürofrau (Kristen Stewart), die im Amt für die Registrierung der neuen Organe arbeitet und von Tenser und seinen neuen Körperteilen besessen ist. So weit, so gut.
Wie seine Protagonist*innen, die in ihren Performances auf der Suche nach Bedeutung von Schmerz, von Grenzen sind, versucht der Film auch, neben Darstellungen seltsamer Bilder noch eine radikale Botschaft zu haben: Mancher Magen kann in jener Dystopie sogar Plastik verdauen: modernes Essen für die modernen Körper. Letztendlich möchte »Crimes of the Future« ein Skandalfilm sein – ist er trotz aller Mühe aber nicht! All die Szenen mit den offenen Wunden und neuen schrägen Leidenschaften klingen für einen Cronenberg-Film ziemlich soft und harmlos.
Besonders heftig ist hingegen der Thriller »Holy Spider« des iranischen Regisseurs Ali Abbasi. Die Geschichte basiert auf einer realen Begebenheit und erzählt von einem Serienmörder, der Anfang der 2000er Jahre 16 Straßenprostituierte in der iranischen, religiösen Stadt Mashhad ermordet hat; er sah sich dabei von Gott berufen, die Straßen der heiligen Stadt von den Prostituierten zu »säubern«. Abbasi zeigt im Film die pure Gewalt, wie die Frauen ermordet wurden, die Szenen sind schwer anzuschauen, einige erinnern an Fatih Akins »Der Goldene Handschuh« (2019) über den Frauenmörder Fritz Honka aus dem Hamburg der 1970er Jahre. »Holy Spider« ist in seiner ungeschönten, realistischen Darstellung eines der stärksten und beeindruckendsten Werke des Wettbewerbs bis jetzt.
Weniger brutal, dafür mit mehr Ironie stellt der schwedische Regisseur Ruben Östlund in der Schwarzen Komödie »Triangle of Sadness« andere ekelerregende und provokative Bilder dar. Die Geschichte beginnt mit einem jungen Modelpaar (Carl und Yaya) und dessen alltäglichem Leben. Da Yaya Influencerin ist, bekommt sie eine Luxusreise geschenkt, und die beiden landen auf einem Kreuzfahrtschiff, umgeben von Multi-Millionären. Mal beharrt eine ultra-reiche Russin an Bord darauf, dass das ganze Personal und die Arbeiter*innen sofort mit der Arbeit aufhören und schwimmen gehen müssen. Und zu ihr darf niemand Nein sagen. Am Abend wird das Dinner serviert, wegen der Nichtarbeit des Küchenpersonals ist es jedoch schlecht geworden, doch das Essen wird trotzdem schick drapiert und serviert. Dann beginnen die Gäste mit den ersten Kotzanfällen. Erbrechen folgt auf Erbrechen. Es kommt noch ein Sturm, das Schiff schwankt stark, manche Gäste schaffen es bis zu ihren luxuriösen Toiletten, die jedoch überquellen. Während das Schiff sinkt und die Reichen in ihrem eigenen Kot und Erbrochenem hin und her rutschen, betrinken sich der Kapitän, ein US-Marxist, und einer der Gäste, ein russischer Kapitalist, und diskutieren am Mikrofon über die Arbeit und das Kapital. Eine Titanic-Parodie.
Das 149-minütige Werk besteht aus drei Episoden, die jede als einzelner Film genial funktionieren würden, etwa das Modelleben oder die Kreuzfahrt (in der dritten Episode landen einige Überlebende auf einer Insel), aber das Gesamte wirkt etwas zu lang und zusammenhanglos.
Ob die andere Hälfte des Festivals auch so gewaltig und provokativ ist, oder ob die Filme sanfter und ruhiger werden, wird sich zeigen.
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