75. Berlinale: Wenn einen die Ohnmacht überkommt

Am Anfang noch lustig, am Ende bitterernst: ein Rückblick auf die Berlinale 2025

Die Filme des Festivals haben etwas gegen die Kälte beigetragen.
Die Filme des Festivals haben etwas gegen die Kälte beigetragen.

Die Berlinale begann mit dem Penis von Lars Eidinger. Und mit der Zeitung »nd«. Tatsächlich! Beide kamen in Tom Tykwers Eröffnungsfilm »Das Licht« vor. Der Penis von Lars Eidinger mehrmals, als sein Markenzeichen; die Zeitung »nd« nur einmal, als eine der Zeitungen und Zeitschriften, die die Berliner Familie Engels im Film abonniert hat. Und im Gegenteil zu dem dauerhaft regnerischen Berlin in Tykwers Film waren die meisten Tage des Festivals sonnig. Und kalt. Es war einer der kälteren – und hoffnungsloseren – Winter. Wegen der Weltpolitik. Doch die Filme haben etwas gegen die Kälte beigetragen. Herzerwärmende Geschichten, Momente und Bilder konnte man in jeder Sektion des Festivals finden. Und Sätze aus den Filmen, die einem nicht schnell aus dem Kopf gehen. »Kinder sind die normalsten Menschen«, meinte etwa der sanfte, emotional zusammengebrochene und daher obdachlose Ari im gleichnamigen französischen Wettbewerbsfilm. Bei dem vielen Wahnsinn in der jetzigen Welt der Erwachsenen möchte man immer wieder an diesen Satz denken. Und wenn einen die Ohnmacht überkommt und man das Gefühl hat, keine Luft mehr zu bekommen, erinnert man sich unwillkürlich an die charismatische Figur Valeska (Hanna Schygulla) im Wettbewerbsfilm »Yunan«, die dem syrischen, unter Atemnot leidenden Munir sagte: »So viel Luft braucht man gar nicht.« Was den Mann tatsächlich beruhigte.

Manchmal reicht ein Satz aus einem Film, um ihn nie wieder zu vergessen. »Was ist der beste Satz in ›Casablanca‹?«, fragte der US-Songwriter Lorenz Hart im Richard Linklaters Wettbewerbsfilm »Blue Moon« jeden, der ihm in der Bar begegnete, um das zum Anlass zu nehmen, nicht endende Monologe über die Liebe, die Kunst und die Schönheit von sich zu geben. Unvergesslich die schauspielerische Leistung von Ethan Hawke als Lorenz Hart, der den ganzen Film alleine trug. Wenn im Jahr 1943, in dem »Blue Moon« spielt, Männer ununterbrochen Monologe hielten, führen Frauen im modernen norwegischen Liebesdrama »Drømmer« (Dreams (Sex Love)) eher intelligente Dialoge. Die hochinteressanten und humorvollen Gespräche zwischen drei Frauen-Generationen in einer Osloer Familie brachten dem Film den Goldenen Bären der Berlinale ein. Doch das Panorama-Publikum hat im Kontrast zu manchem dialoglastigen Werk des Wettbewerbs den spanischen Titel »Sorda« als besten Film ausgewählt, in dem mitten in der Geschichte der Ton verschwindet, sodass man die Welt auf einmal aus der Perspektive der gehörlosen Hauptfigur Ángela erlebt, die versucht, mit ihrem hörenden Neugeborenen Wege der Kommunikation zu finden.

Es mangelte also nicht an guten Filmen. Besonders in den Sektionen Panorama und Berlinale Special waren einige Titel qualitativ hochwertiger und interessanter als manches Werk des Wettbewerbs. Warum diese dann doch außer Konkurrenz oder in den Nebenreihen gezeigt wurden, ist unklar. Langatmige Abende gab es aber auch. Im Debütfilm »Come la notte« (Where the Night Stands Still), der in der Sektion Perspectives uraufgeführt wurde, fegte etwa die Hauptdarstellerin gefühlt 15 Minuten den Boden. Dass eine kleine Maus während der Premiere in dem neuen Kino Stage Bluemax Theater über die Bühne huschte und die Menschen in den ersten Reihen darüber lachten, war wohl das Spannendste, was während dieses Screenings passierte. Abgesehen von der letzten Minute des Filmes.

Die Doku, die am Vorabend der Bundestagswahl vom Panorama-Publikum als die beste gewählt wurde, hatte eine klare Botschaft an die Politik.

Doch jedes Mal im Kino, wenn der Nachspann vorbei war und das Licht wieder eingeschaltet wurde, schlugen einem die Nachrichten der Politik ins Gesicht, kaum, dass man das Handy wieder in der Hand hatte. Nachrichten über die Anschläge, die während des Festivals in Deutschland geschahen, über die Pläne des US-Präsidenten für den Gazastreifen und die Ukraine und über die Bundestagswahl. Das alles hat das Fest überschattet. Dazu kamen noch manche Äußerungen von zwei, drei internationalen Gästen – vor allem die Sympathiebekundung der Schauspielerin Tilda Swinton für die BDS-Bewegung –, von denen sich die Berlinale ausdrücklich distanzierte, die aber einigen den Anlass gaben, das Festival als Ganzes infrage zu stellen und sogar seine finanziellen Mittel streichen zu wollen.

Dabei hat die neue Leiterin Tricia Tuttle ihr Programm so bedacht zusammengestellt, dass es sowohl der Filmkunst gerecht wurde, als auch die sensiblen Themen unserer Zeit, die sich von Jahr zu Jahr mehren, angemessen berücksichtigte. Während der Berlinale jährte sich der rassistische Anschlag von Hanau zum fünften Mal, der Überfall Russlands auf die Ukraine zum dritten Mal. In verschiedenen Sektionen des Festivals gab es entsprechend Dokumentationen, die sich jeweils mit diesen Themen beschäftigten. Außerdem jährt sich 2025 das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zum 80. Mal. Anlässlich dessen zeigte die Berlinale den Film »Shoah« von Claude Lanzmann, der vor 40 Jahren uraufgeführt wurde. Zwei weitere Dokus »Michtav Le’David« (A Letter to David) und »Holding Liat« handelten von den Geiseln, die von der Hamas gefangen genommen wurden. »Holding Liat« von Brandon Kramer, der in der Sektion Forum lief und den Preis für den besten Dokumentarfilm gewann, erzählt von der einstigen Hamas-Geisel Liat Beinin Atzili und ihrer Familie. Eine Familie, die an ihren Geliebten festhielt und gleichzeitig nach einer friedlichen Zukunft für Israelis und Palästinenser gesucht habe, wie der Regisseur des Films bei der Preisverleihung sagte.

Auch die Doku, die am Vorabend der Bundestagswahl vom Panorama-Publikum als die beste gewählt wurde, hatte eine klare Botschaft an die Politik. »Die Möllner Briefe« von Martina Priessner befasst sich mit den Überlebenden des rassistischen Brandanschlags von Mölln im Jahr 1992. Die zahlreichen solidarischen Briefe, die die Menschen damals an die betroffenen Familien geschrieben haben, blieben im Archiv der Stadt Mölln. 27 Jahre wussten die Überlebenden nichts davon. Durch Zufall wurden diese Briefe von einer Studentin im Archiv entdeckt. Erst jetzt bekommen die Opfer mit, dass sie damals nicht allein waren. Während das Berlinale-Publikum bewusst eine Dokumentation gewählt hat, die sich gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit engagiert, hat Deutschland ganz anders gewählt. Es wurden Parteien Sieger dieser Wahl, die alles andere auf der Agenda haben, als Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen.

Am Anfang des Festivals gab es noch ein Gefühl von Leichtigkeit, alles war noch festlich, noch lustig, am Ende bitterernst. Wie auch dieser Text. Nun, überwältigt von Ohnmacht, versteht man vielleicht, warum der im Exil lebende Munir im Film »Yunan« trotz körperlicher Gesundheit häufig keine Luft bekommen konnte.

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