Eine andauernde Störung

Umweltschützer wehren sich gegen von Wintershall Dea beantragte neue Ölbohrungen im Weltnaturerbe Wattenmeer

  • Jörg Staude, Friedrichskoog
  • Lesedauer: 7 Min.
Protestaktion von Umweltschützern gegen Ölförderung
Protestaktion von Umweltschützern gegen Ölförderung

Der Anblick ist so unerwartet wie unwirklich: 70 Meter hoch erhebt sich im Nationalpark Wattenmeer die Bohrinsel Mittelplate. Sie ist bestückt mit Bohrturm und allem, was es braucht, um jedes Jahr eine Million Tonnen Öl aus drei Kilometern Tiefe zu holen. Vom pittoresken Küstenort Friedrichskoog aus ist Mittelplate bei klarem Wetter gut zu sehen. Der Ort wirbt mit dem Strand, mit Salzwiesen und der Seehundstation, wo junge Heuler aufgepäppelt werden. Alles liegt direkt im Weltnaturerbe. Den Status hat das Wattenmeer 2019 von der Unesco verliehen bekommen.

Nationalpark ist das schleswig-holsteinische Wattenmeer schon viel länger – seit Oktober 1985. Die Bohrinsel wurde später in den Schlick gesetzt. Seit 1987 darf das Unternehmen Dea, das nach einer Fusion als Wintershall Dea firmiert, mitten in dem eigentlich streng geschützten Gebiet Öl fördern. Seitdem sei auch nichts passiert, verkündet der Öl- und Gaskonzern auf seiner Website, alles sei störungsfrei gelaufen.

So ganz stimmt das natürlich nicht, erläutert Hans-Ulrich Rösner. Mit den Auswirkungen der Bohrungen kennt sich kaum jemand besser aus als der langjährige Chef des WWF-Wattenmeerbüros, der hier auf der Schutzstation schon Mitte der 1980er Jahre seinen Zivildienst leistete. Für Rösner ist die Bohrinsel seit ihrer Inbetriebnahme die Störung an sich. Beispielsweise für Hunderttausende Wat- und Wasservögel, die aus der Arktis ins Wattenmeer fliegen, dort rasten und nach Nahrung suchen.

»Der gesamte westeuropäische Bestand der Brandgans – mehr als 200 000 Tiere – kommt im Sommer ins Gebiet der Mittelplate und mausert dort« so der Experte. »Die Tiere kommen extra ins Wattenmeer, um in dieser für einen Vogel sehr anstrengenden Zeit ungestört zu sein.« Ständig produziere die Bohrinsel jedoch Lärm, gerade durch den dauernden Schiffsverkehr.

Für den Naturfreund ist die Sache klar: »Eine Ölförderung hat in einem Nationalpark nichts zu suchen. Die Plattform zerstört in dessen südlichem Teil den Eindruck von einem Nationalpark.« Im Wattenmeer sollten die Menschen wilde Natur erleben können, er sei absolut nicht dazu da, Industrieanlagen hineinzubauen.

Rösner erklärt das Anfang Mai bei einer Protestaktion am Friedrichskooger Strand in zahlreiche Mikrofone und Kameras, die auf ihn gehalten werden. Der WWF, die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und die örtliche Seehundstation hatten sich zusammengetan, um dem seit Jahrzehnten anhaltenden Umweltskandal mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ein gutes Dutzend Aktivist*innen stehen dazu barfuß am Rand des Wattenmeers und halten ein gelbes Transparent hoch: »Keine neuen Bohrungen im Wattenmeer. Stopp der Ölförderung bis 2030!«

Von der Jahreszahl will Wintershall Dea nichts wissen. Von den in der Tiefe vermuteten 120 Millionen Tonnen Öl sollen den Angaben zufolge bisher 40 Millionen gefördert sein. Genehmigt ist der Ölabbau im Weltnaturerbe vorerst bis 2041. Vor drei Jahren beantragte der Konzern nicht nur, die Förderung bis 2069 zu verlängern, sie soll sogar noch ausgeweitet werden. Mit einer neun Kilometer langen Horizontalbohrung soll der südliche Teil des »bergrechtlichen Bewilligungsfeldes« angebohrt werden.

2069? Soll da zwischendurch nicht was passieren? Ja, genau. Gut ein Vierteljahrhundert vorher, um 2045, soll Deutschland in Wirtschaft, Verkehr und allen anderen Bereichen netto gar keine Treibhausgase mehr ausstoßen, Klimaneutralität ist das regierungsoffizielle Versprechen. »Das heißt: Wir dürfen kein Öl, kein Gas und keine Kohle mehr verbrennen«, erklärt DUH-Geschäftsführer Sascha Müller-Kraenner am Meeresstrand. Hier auf Jahrzehnte weiterzufördern sei damit überhaupt nicht vereinbar. Gerade im Nationalpark sollte die Ölförderung früher beendet werden, schiebt Müller-Kraenner nach. Bis 2030 sei das zu schaffen.

Bis vor kurzem hätten die Öl- und Gasleute nicht so recht gewusst, was sie darauf antworten sollen. Erdgas galt im Koalitionsvertrag der Ampel wenigstens noch als »Brückentechnologie«. Aber Öl? Für den schlimmsten Klimakiller neben der Kohle standen die Zeichen schlecht.

Seit drei Monaten gibt es aber ein neues, geradezu unschlagbares Argument, um trotz des Klimaproblems in Deutschland Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen sowie mehr einheimisches Gas und Öl zu fördern: der Krieg Putins gegen die Ukraine und die gefährdete Energiesicherheit. Gleichwohl ist der Krieg für Wintershall Dea kein Grund, sich aus seinen umfangreichen Geschäften in Russland zurückzuziehen. Es würden »nur« keine neuen hinzukommen, verkündete die Chefetage kürzlich. Also fördert ein Gemeinschaftsunternehmen von Wintershall Dea und dem russischen Staatskonzern Gazprom in Sibirien weiter Erdgas.

Die krisenhafte Weltlage macht es jetzt sogar möglich, auf beiden Seiten Geschäfte zu machen. Wintershall Dea hält es inzwischen für machbar, die Ölförderung im Wattenmeer schon ab 2025 auszuweiten, sofern der gestellte Antrag von den Behörden noch zügig in diesem Jahr genehmigt wird. Dadurch könnten bis 2041 insgesamt weitere zwei Millionen Tonnen Erdöl in Schleswig-Holstein gefördert werden, eine »relevante Menge«, meint der Konzern.

Die Relevanz kann man durchaus anders sehen: Die derzeit geförderte Menge von einer Million Tonnen jährlich entspricht etwa einem Prozent des inländischen Verbrauchs, rechnet DUH-Energieexperte Constantin Zerger vor. Die vom Konzern beantragte Ausweitung betrage 120 000 Tonnen jährlich, das seien ganze 0,1 Prozent des deutschen Bedarfs, also eher ein Fingerhut voll. »Durch Energieeinsparung kann diese Menge viel leichter ersetzt werden«, ist sich Zerger sicher. Die genannten Risiken einzugehen, sei mit der Forderung nach Unabhängigkeit vom russischen Öl nicht zu begründen.

Mit dem Argument der Versorgungssicherheit die Ausweitung der Mittelplate-Förderung zu begründen, hält auch das Bundesumweltministerium für wenig überzeugend. Trotz der Notwendigkeit, von russischen Energieimporten unabhängig zu werden, sei es wichtig, alle denkbaren Alternativen sorgfältig zu prüfen und abzuwägen. Hier sei »dringend Augenmaß erforderlich«, erklärt eine Sprecherin auf Nachfrage. Und selbst wenn das zusätzliche Öl schon 2025 käme – das sei »kein kurzfristiger Beitrag« zur Versorgungssicherheit, stellt das Ministerium klar. Maßnahmen wie Energieeinsparung und bessere Energieeffizienz könnten mittelfristig die Ausweitung der Fördermengen überflüssig machen. Die Genehmigung weiterer Öl- oder auch Gasförderungen in Nord- und Ostsee sei »allenfalls mit einer strikten zeitlichen Befristung akzeptabel«, betont die Sprecherin.

Leider hat das Bundesumweltministerium bei der Genehmigung der Förderausweitung so gut wie nichts zu sagen. Zuständig ist, obwohl Mittelplate vor der Küste Schleswig-Holsteins liegt, das niedersächsische Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie. Es hat den Status einer Bergbehörde und ist auch für die Küstengewässer der Nordsee zuständig, die in der Verantwortung der Länder liegen, also auch für die Schleswig-Holsteins.

Noch ist über die Genehmigung der Ölförderung nicht entschieden, aber die Landespolitik hat sich schon einmal positioniert. In Schleswig-Holstein hatte die künftig nicht weiterregierende Jamaika-Koalition noch im März einen Antrag in den Landtag eingebracht, indem sie eine vorübergehende Erweiterung der Erdölförderung auf Mittelplate unterstützt. Natürlich wird darin ein Kompromiss angeboten: Wenn Wintershall Dea schnell mehr Öl fördern will, soll der Konzern, verlangt jedenfalls der Antrag, eine »Gegenleistung« erbringen: ein vorzeitiges Förderende. Anders als die Umweltschützer strebt die Landespolitik einen Zeitpunkt »vor dem Jahr 2041« an, dem Auslaufjahr der geltenden Genehmigung. Das ist, soweit bekannt, auch die Position der Grünen in Schleswig-Holstein, die seit Mittwoch mit der CDU über eine schwarz-grüne Koalition sprechen.

Wattenmeerexperte Rösner sieht beim Streit um die Ölförderung nicht nur die Landes-, sondern auch die Bundespolitik in der Verantwortung. Dass Ölförderung in einem Nationalpark überhaupt noch zulässig ist, liegt für den WWF-Mann vor allem am geltenden Bundesbergrecht. »Nur weil jemand Rohstoffe fördern will, kann er sich erbarmungslos über die Interessen der Menschen hinwegsetzen«, beschwert sich Rösner. Dass es rechtens sein soll, Rohstoffe in einem Nationalpark zu fördern, sei unfassbar. »Das muss einfach ausgeschlossen sein«, gibt er zu Protokoll. Die Reform des Bergrechts müsse auf Bundesebene angepackt werden. In ihren Koalitionsvertrag hat die Ampel-Regierung dazu allerdings nur einen Satz hineingeschrieben: »Wir wollen das Bundesbergrecht modernisieren.« Flankiert wird dies von der davorstehenden Formulierung, man wolle die Wirtschaft bei der Rohstoffversorgung unterstützen und den heimischen Rohstoffabbau »erleichtern und ökologisch ausrichten«.

»Erleichtern« hieße: Dea darf bohren. »Ökologisch ausrichten« hieße: Dea darf nicht bohren. Solange dieser Streit nicht für Umwelt und Klima entschieden ist, wird Mittelplate weiter wie ein Mahnmal im Wattenmeer thronen.

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