- Kultur
- Künstlerin Barbara Kruger
Auf Kunst herumtrampeln
Die Künstlerin Barbara Kruger ließ gigantische Buchstaben auf Vinyl drucken und auf den Boden der Neuen Nationalgalerie in Berlin legen.
Die New Yorker Konzeptkünstlerin Barbara Kruger stattet die Neue Nationalgalerie in Berlin mit Texten aus. Die 77-Jährige bedient sich in ihrer »Bitte lachen/Please Cry« betitelten Ausstellung so eindrücklichen wie ambivalenten Zitaten von den Schriftstellern George Orwell und James Baldwin sowie dem Philosophen Walter Benjamin. Sie steuert aber auch eigene Worte bei. Dabei dient ihr der einst von Ludwig Mies van der Rohe entworfene Museumsbau mit seinen allseitigen Glaswänden als Vitrine. Nicht alles ist jedoch auf einen Blick zu sehen: Kruger, die gelernte Werbegrafikerin im Zeitschriftengewerbe ist, entschied sich für sehr große Buchstaben, zuweilen größer als die Menschen, die über sie hinwegschreiten. Sie ließ sie auf einen Vinylbelag drucken, der nun den Boden der Neuen Nationalgalerie bedeckt.
Auch Texte, die man sonst auf Werbetafeln vermuten würde, die an Hauswänden oder Aufstellern befestigt sind, kippte Kruger in die Horizontale.
Man läuft also darauf und mag sich zunächst ein wenig unwohl dabei fühlen. Denn wann tritt man sonst schon mit den Füßen auf etwas, das als Kunst begriffen wird? Den Kontrast zu Krugers Ausstellung bietet die Sammlungsausstellung im Untergeschoss. Dort achtet das Aufsichtspersonal sehr streng auf die Abstände zwischen den Betrachter*innen und der Kunst. Letztere zu berühren ist verboten.
Kruger mindert dagegen oben, im von Tageslicht durchfluteten Obergeschoss, den Abstand zwischen den heiligen Hallen der Kunst zur profanen städtischen Umgebung der Nationalgalerie. Bei Skateboardfahrern sind die Rampen der Terrasse vor dem Museum sehr beliebt. Sie sausen vor dem Kunstbau herum. Und nun laufen Besucher*innen im Inneren über die Schriftkunst.
Dabei sieht man zum Beispiel zwei riesige Buchstaben »m«, weiß auf rotem Grund, direkt vor sich. Um sie zum Wort »immer« zusammensetzen zu können, muss man sich ein wenig nach links und rechts bewegen. Auf der Zeile darüber mag man die Buchstabenfolge »mtra« erkennen. Für das ganze Wort »herumtrampelt« muss man entweder zurücktreten, mehr Abstand zwischen sich und die Buchstaben bringen, oder die Zeile entlanggehen. So müssen sich die Besucher*innen der Ausstellung so manchen Zusammenhang mühsam erlaufen – eine Erinnerung daran, dass Erkenntnis immer fragmentarisch ist.
Wer die Buchstaben vom Anfang des Satzes noch nicht vergessen hat, wird am Ende die Aussage »Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der auf einem menschlichen Gesicht herumtrampelt, für immer« zusammensetzen können. Das Zitat stammt von Orwell. Es ist seinem Roman »1984« entnommen – dem Dystopie-Klassiker zum Überwachungsstaat schlechthin. Man könnte die Weise, wie Kruger den Satz verwendet, als subtile Kritik am Glasbau von Mies van der Rohe verstehen. Der gläserne Kubus wird gern als Beispiel für architektonische Transparenz angeführt.
Der aktuelle Krieg in der Ukraine lädt den von Orwell zitierten Satz selbstverständlich mit neuer Wucht auf. Man hat Militärstiefel vor Augen, die gerade über die Weizenfelder des Landes trampeln. Die Köpfe von Menschen, die auf dem Boden liegen, tot oder nur ruhend, erschöpft oder verängstigt, stellt man sich angesichts der Flut der Nachrichtenbilder ebenfalls recht schnell vor. Und nur Millisekunden später rauschen Bilder von Stiefeln im Gesicht durch das Hirn.
Die imaginäre Bilderschau erfolgt, während die eigenen Füße auf der Kunst herumtrampeln. Die Suggestivkraft dieser Textinstallation rief zu Beginn der Ausstellung die ukrainische Performancekünstlerin Maria Kulikovska auf den Plan. Sie legte sich auf die Stufen vor den Ausstellungsbau, provisorisch geschützt nur von einer ukrainischen Flagge, mit der sie ihren Körper umhüllte. Kulikovska fiel schon früher mit eindrücklichen Arbeiten auf. In der Videoperformance »Let Me Say: It’s Not Forgotten« schlich sie 2019 nackt, aber mit einem Gewehr in den Händen, durch einen Wald und schoss auf dort aufgestellte Frauenskulpturen. Sie reinszenierte damit einen offenbar echten Vorfall. 2014 schossen prorussische Separatisten bei der Plünderung eines Kunstzentrums in der ostukrainischen Stadt Donezk auf dort ausgestellte Seifenskulpturen der Künstlerin, erklärt sie in einem Text zur Videoarbeit. Nun verband sie in ihrer Performance ihren Körper mit dem Zitat Orwells – und fügte damit auch Krugers Arbeit etwas hinzu.
Kruger als Künstlerin aus dem Westen beutet den Kontext des Ukraine-Krieges aus. Sie inszeniert sich nicht als seherisch. »Es bleibt tragisch, dass diese Worte immer noch die Brutalitäten und Kämpfe wiedergeben, die seit Jahrhunderten andauern«, schreibt sie in einem Interview im Begleitheft zur Ausstellung. »Und obwohl diese Bedeutungen hier und jetzt mitschwingen, darf man die Worte nicht nur geographisch oder ortsbezogen verstehen«, betont sie.
In der Nationalgalerie schafft sie einen exzellenten Assoziations- und Reflektionsraum. Der Satz Orwells ist dafür nur ein Beispiel.
Barbara Kruger – »Bitte lachen/Please Cry«, bis zum 28. August, Neue Nationalgalerie, Berlin
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