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Wertebasierter Handel, handelskonforme Werte?

Der Ökonom Gustav Horn fordert neue Spielregeln für den Welthandel. Aber was heißt das konkret? Eine Replik des Wirtschaftsethikers Sebastian Thieme

  • Sebastian Thieme
  • Lesedauer: 6 Min.
Garnproduktion in Bangladesch: Bedeutet wertebasierte Handelspolitik, dass Unternehmen nicht benachteiligt werden, die auf die Einhaltung sozialer Mindeststandards achten?
Garnproduktion in Bangladesch: Bedeutet wertebasierte Handelspolitik, dass Unternehmen nicht benachteiligt werden, die auf die Einhaltung sozialer Mindeststandards achten?

Die öffentliche Debatte über ein Gasembargo gegen Russland hat deutlich gemacht, wie stark die deutsche Wirtschaft von fossilen Rohstoffen aus Russland abhängt. Diese Abhängigkeit wurde kritisiert. Um sie zu verringern, wird nun verstärkt über grüne Energien und eine ökologische Transformation gesprochen. Gleichzeitig findet ein Nachdenken über die globale Handelspolitik statt. Bereits im März dieses Jahres plädierte Finanzminister Christian Lindner für einen neuen Anlauf zu einem Freihandelsabkommen mit den USA und betonte: »Gerade jetzt in der Krise zeigt sich, wie wichtig der freie Handel mit Partnern in der Welt ist, die unsere Werte teilen.« So lässt sich auch Außenministerin Annalena Baerbock verstehen, wenn sie von einer »wertegeleiteten Außenpolitik« spricht, die darauf abziele, »gleichzeitig Werte und Interessen – auch wirtschaftliche Interessen – zu verteidigen. Weil das eine mit dem anderen ganz eng zusammenhängt.« Diesem Zeitgeist folgt ein Gastbeitrag für die »Zeit« von Gustav Horn, der seit 2019 im Vorstand der SPD sitzt und bis zu seinem Ruhestand Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung war. In seinem Gastbeitrag widmet sich Horn den »neuen« Spielregeln für einen globalen »wertebasierten« Handel.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Zunächst lässt sich aus wirtschaftsethischer Sicht durchaus begrüßen, wenn Gustav Horns Überlegungen zu einer »wertebasierten Handelspolitik« im Sinne eines effektiven Lieferkettengesetzes gemeint sind. Denn damit wäre ein geeigneter Ordnungsrahmen verbunden, in dem Unternehmen, die auf die Einhaltung von Grundrechten, sozialen Mindeststandards, Arbeitsplatzsicherheit und Umweltschutz achten, nicht benachteiligt werden. Doch neben diesem respektablen Anspruch werfen Horns Überlegungen grundsätzliche Fragen und Zweifel auf.

Das beginnt damit, dass eine »wertebasierte« Handelspolitik nicht auf kurzfristige Profitabilität zu trimmen sei, sondern »die staatliche und die gesellschaftliche Verfasstheit der Handelspartner« ins Auge zu fassen habe. Dazu erwähnt Horn zwar, dass es um Werte »liberaler und sozialer Demokratien« ginge. Doch das ist in dieser allgemeinen Form ein breit akzeptierter Allgemeinplatz. Wer bestimmt denn im Detail und wie, was ganz konkret und praktisch »wertebasiert« sein soll?

Ab wann sollte der Handel gestoppt werden...

Diese Frage ist gar nicht einfach zu beantworten. Dafür bräuchte es zum Beispiel fundierte Expertise aus Bereichen wie der Wirtschaftsethik oder Pluralen Ökonomik, um die es aber weder in der deutschen Hochschullandschaft noch zum Beispiel in Gewerkschaften gut bestellt ist. Aus wirtschaftsethischer Sicht ließe sich zum Beispiel kritisch fragen, ob denn tatsächlich die Bereitschaft existiert, den Handel mit autokratischen Regimen, die »unseren« Werten widersprechen, einzuschränken oder womöglich ganz einzustellen, »wenn die politischen Systeme in diesen Ländern ins Aggressive degenerieren«.

Das lässt sich bezweifeln. Gleichzeitig untergräbt Horn die von ihm geforderte »Wertebasierung«, indem er die Kategorie »funktionaler« Handelsbeziehungen einführt. Gemeint sind damit Handelsbeziehungen zu Ländern, die »unsere Werte« nicht teilen müssen. Denn welches Leid ließe sich dann im »funktionalen« Sinne »wertebasiert« tolerieren? Was heißt das für »unsere« »Werte«? Wie marktorientiert funktional sollen »unsere Werte« sein? Ab wann ist eine Regierung derart »ins Aggressive degeneriert«, dass der Handel gestoppt werden muss? Zugespitzt gefragt: Was sind dann gute und schlechte »funktionale« Autokrat:innen?

... und müsste sich die EU eigentlich selbst sanktionieren?

Zweifel am »wertebasierten« Ansatz sind auch gesät, wenn Gustav Horn schreibt, dass die Werte »denen liberaler und sozialer Demokratien entsprechen« sollen, er dazu dann aber gleich einschränkt: »freilich in unterschiedlicher Ausprägung«. Wie weit darf die »unterschiedliche« Ausprägung gehen, wenn noch von gemeinsam geteilten Werten die Rede sein soll?

Ist es »freilich« noch in Ordnung, was gerade mit Julian Assange passiert? Entspricht es »unseren« Werten, wie mit Flüchtenden an den Grenzen der EU umgegangen wird? Oder muss Deutschland aufgrund der »wertebasierten« Handelspolitik einen Importstopp gegen Güter aus Griechenland, Polen und die Türkei verhängen? Müsste sich die EU eigentlich selbst sanktionieren wegen ihrer Politik gegen Geflüchtete? Wie »wertebasiert« ist es, von Deutschland aus mutmaßlich Drohnenmorde zu ermöglichen? Hätte nach den neuen »wertebasierten« Regeln der Handel mit den USA nach Bekanntwerden der Folterprogramme nach 2001 zumindest eingeschränkt werden müssen, ebenso wie der Handel mit Polen, wo Foltergefängnisse angesiedelt wurden und auch mit China nach der Niederschlagung der Protestbewegung 1989? Wo fängt sie also an, diese »wertebasierte« Handelspolitik? Wo hört sie auf?

Vermutlich würde eine ernst gemeinte »wertebasierte« Handelspolitik die Zahl der von Horn erwähnten »präferierten« und »engen« Handelsverbindungen bereits erheblich reduzieren. Besonders problematisch sind die genannten »funktionalen« Handelsverbindungen. Es ist zu befürchten, dass sich bei solchen Einteilungen Doppelstandards einschleichen. Doppelstandards, die so entscheidend sind, dass sie eine zunächst vollmundig vorgetragene »Werteorientierung« am Ende wie Makulatur erscheinen lassen. Es besteht auch die Gefahr, dass eine »Werteorientierung« vorgeschoben wird, um durch »funktional« praktizierte Doppelstandards als Legitimationsideologie bestimmte geopolitische oder rein nationalökonomische Zwecke durchzusetzen.

Nichtsdestotrotz lässt sich natürlich über eine alternative Handelspolitik nachdenken, die stärker zum Beispiel auf Regionalisierung, kurze Handelswege, Menschenrechte, Umweltschutz und Sozialstandards setzt. Das wurde und wird bereits in Diskussionen um Postwachstum und eine sozial-ökologischen Transformation getan. Und freilich geben auch Corona, Systemrelevanz, Versorgungssicherheit, Havarien wie die um das Containerschiff »Ever Given« und die klimatischen Veränderungen gute Gründe an die Hand, Handel und Handelspolitik anders zu denken.

Demokratische »Werte« stehen nicht erst durch den Ukraine-Krieg unter Beschuss

Über eine andere Handelspolitik zu reflektieren, sollte aber auch damit einhergehen, sich ernsthafter und kritischer als bisher mit Ideen des »Wettbewerbs«, der Teilhabe, Partizipation, Verteilung und Fairness sowie den damit verbundenen politischen Entscheidungsprozessen auseinanderzusetzen. Denn die demokratischen »Werte«, das deutet der Text von Gustav Horn an, stehen nicht erst durch den Ukraine-Krieg unter Beschuss. Auch Handelspolitik kann ein Kampfmittel sein, wie Sanktionen und Begriffe wie »Handelskrieg« zeigen.

Wer von »wertebasierter« Handelspolitik spricht, sollte auch nicht über Ökonomisierung, Demokratieentleerung und soziale Desintegration in Deutschland und der EU schweigen. Denn letztlich kann nur dann auch glaubhaft von »Werten« und »Wertebasierung« gesprochen werden. Das wäre eine zentrale Voraussetzung für eine vor allem integre »wertebasierte« Handelspolitik.

Das klingt nach Pluraler Ökonomik und Wirtschaftsethik? Nun, vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, diese kritischen Perspektiven in ein Nachdenken über »wertebasierte Handelspolitik« einzubinden.

Dr. Sebastian Thieme ist Volkswirt und war Vertretungsprofessor an der Hochschule Harz. Er forscht unter anderem zu wirtschaftsethischen Fragen, zur wissenschaftlichen Entwicklung der Ökonomik, ökonomischen Misanthropie, Selbsterhaltung/Subsistenz und zum Sozialstaat. Er setzt sich ein für eine Plurale Ökonomik, die nicht nur modellökonomische Denkschulen, sondern auch sozialökonomische Ansätze und ethische Perspektiven berücksichtigt.

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