Kollektive Erinnerungsarbeit

Der Kommunist Harry Naujoks legte über Jahrzehnte hinweg einen Bericht über das KZ Sachsenhausen an. Eine besondere Rolle bei der Entstehung und Veröffentlichung des Buches spielte seine Genossin und Ehefrau Martha Naujoks

  • Henning Fischer
  • Lesedauer: 14 Min.
Ein langes gemeinsames Leben, politisch wie privat: Die GenossInnen Naujoks 1981 in Hamburg
Ein langes gemeinsames Leben, politisch wie privat: Die GenossInnen Naujoks 1981 in Hamburg

Mehr als vierzig Jahre lang, vom Herbst 1945 bis zum Herbst 1987, dauerte die Arbeit an einem Buch über die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Es stammt von dem kommunistischen Überlebenden Harry Naujoks – und seinen Diskussionspartnern, Genossinnen und Lektor*innen. Ein aktuelles Buchprojekt rekonstruiert nun diese ungewöhnliche Geschichte einer kollektiv verfassten Erinnerung.

Wie ist diese komplizierte Geschichte am besten zu erzählen, wo fängt man an? Vielleicht mit dem Material, mit dem das Erzählen erst möglich wird. Im Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen liegt der umfangreiche Nachlass von Harry Naujoks (1901–1983), und darin befinden sich neben Korrespondenz, Fotografien, persönlichen und politischen Unterlagen auch die vielfältigen Spuren eines Erlebnisberichts über das KZ Sachsenhausen. Dessen Entstehung nahm 1945 ihren Anfang und war erst 1987 mit der Veröffentlichung im Röderberg-Verlag abgeschlossen. Seine Spuren umfassen unter anderem ein handschriftliches Manuskript von 720 Seiten in Sütterlin-Schrift, ein redigiertes und von Genoss*innen abgetipptes Typoskript aus den 1980er Jahren, mehrere Vorgängertexte und – besonders faszinierend für alle, die sich mit Geschichte und Erinnerung beschäftigen – fast hundert Stunden Tonaufnahmen. Diese Bänder dokumentieren »Kumpelgespräche«, zu denen über Jahre hinweg ehemalige Sachsenhausen-Häftlinge in Hamburg zusammenkamen, um die Erinnerungen von Harry Naujoks zu diskutieren, zu bestätigen oder auch zu korrigieren: eine Redaktionsrunde aus Zeugen der Geschehnisse, die sich die Aufgabe der faktischen und politischen Überprüfung der Erinnerung gab. »Ihr wollt anhand von Erinnerungen die Wahrheit festhalten«, interpretierte Naujoks’ Weggefährtin, Genossin und Ehefrau Martha Naujoks im Jahr 1979. Es ist äußerst selten, dass so reiche Quellen zur Entstehung eines Erinnerungsberichts vom Widerstand gegen das Nazi-Regime vorliegen. Ein Grund mehr, von ihnen zu berichten.

Verfolgung, Widerstand, Befreiung

Die Geschichte, die mit diesem Material erzählt wird, kann an vielen Stellen ihren Anfang haben. Eine ist der August 1933, denn in diesem Monat wird Harry Naujoks, langjähriger Bezirksfunktionär der KPD in Hamburg, aufgrund seiner Widerstandstätigkeit gegen das Nazi-Regime zum zweiten Mal verhaftet. Etwas mehr als ein Jahr später wird er wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« verurteilt. In der folgenden Zeit ist er unter anderem in den Lagern Bremen-Oslebshausen und Kola-Fu (Fuhlsbüttel) in Hamburg inhaftiert, ab November 1936 dann im neu errichteten KZ Sachsenhausen. In dem Lager, das bis 1945 besteht, werden circa 200 000 Menschen inhaftiert, mehrere Zehntausende sterben an den Haftbedingungen oder werden ermordet. Dort versucht Naujoks als Teil des Netzwerks kommunistischer Häftlinge, trotz Willkür und Terror der SS einander und anderen Gefangenen zu helfen, Schaden von ihnen abzuwenden und – soweit unter diesen Bedingungen möglich – Widerstand zu leisten. Das perfide KZ-System legt Funktionshäftlingen wie Block- und Lagerältesten einen Teil der Verwaltung des Lagers in die eigenen Hände. Dies schafft Möglichkeiten zu Selbstbehauptung und Widerstand, stellt diesen Häftlingen aber auch die Falle, sich in die Organisation von Ausbeutung und Gewalt zu verstricken. Harry Naujoks gehört zu denjenigen, die versuchen, durch die Übernahme solcher Funktionen Selbsthilfe und Solidarität der Inhaftierten zu organisieren. Von 1939 bis 1942 ist er Lagerältester in Sachsenhausen, bis er im November 1942 mit anderen politischen Häftlingen als Strafmaßnahme in das KZ Flossenbürg deportiert wird. Auf dem Todesmarsch in Richtung Süden wird er im April 1945 von US-amerikanischen Truppen befreit.

Die zweite Hälfte seines Lebens, und damit die Lebensphase der Erinnerung, beginnt in diesem April 1945 mit einem vierwöchigen Fußmarsch von Bayern nach Hamburg, nach zwölf Jahren in nationalsozialistischer Haft. Bereits hier hält Naujoks seine Erlebnisse fest, die Gespräche mit der Landbevölkerung, umherziehenden Deutschen, ehemaligen Soldaten. Die Unterhaltungen sind ernüchternd für einen Kommunisten, der hofft, dass die Menschen »nach Hitler« nun Interesse an einem antifaschistischem, sozialistischem Gemeinwesen haben. In Hamburg-Harburg angekommen, knüpft Harry Naujoks direkt an die Zeit bis 1933 an und wird Funktionär der dortigen KPD. Im Rahmen der Ausrichtung der KPD auf die Linie der SED der Nachkriegszeit gerät er, der schon in den 1920ern zur Oppositionsgruppe der »Versöhnler« zählte, allerdings bald in Konflikt mit dem Parteivorstand. 1950 wird er seiner Funktion im Hamburger Landesvorstand der KPD enthoben. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten ist er als Kommunist in der BRD sehr rege und vielfältig aktiv, allerdings nicht mehr in öffentlicher Rolle für die Partei. Dafür erhält ab den 1950er Jahren die Arbeit an der Erinnerung und für das »Sachsenhausen-Komitee für die BRD« immer größere Bedeutung. Der Überlebendenverband bemüht sich um die Dokumentation der Verbrechen in den KZ und die Erinnerung an den Widerstand dagegen. 1962 erscheint eine Rede Naujoks’ unter dem Titel »Das Gestern soll nicht das Heute bestimmen«, die an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnert, die Straflosigkeit der Täter und die Kontinuitäten in der BRD kritisiert. Und noch aus einem weiteren Grund ist die Rede bemerkenswert: Sie erinnert auch an die »Existenz der wenigen überlebenden jüdischen Menschen«, warnt vor Antisemitismus und fordert, diesem »mit der ganzen Autorität der Gesellschaft« entgegenzutreten. Das ist in dieser Deutlichkeit selten.

Sammel- und Reflexionsarbeiten

Und das ist nur ein kleiner Teil von Harry Naujoks politischem Tun. Denn zur gleichen Zeit legen er und Martha Naujoks in ihrem Wohnhaus in Hamburg ein privates Archiv zur Geschichte des Konzentrationslagers Sachsenhausen an. Berichte von Überlebenden, Publikationen, Briefwechsel mit »Kumpels«, Zeitungsberichte, die Antworten auf einen selbst erstellten Fragebogen und die spärliche Forschungsliteratur werden zusammengetragen. Die ersten Arbeiten zum KZ Sachsenhausen hatte Harry Naujoks allerdings schon Jahre zuvor angefertigt. Bereits im Herbst 1945 fasste er mit dem Text »Einige Tatsachen aus dem KL Sachsenhausen« auf 24 Schreibmaschinenseiten zentrale Ereignisse zwischen 1936 und 1945 zusammen und stellte Überlegungen an zur sozialen Figur des »Konzentrationärs« sowie zur politischen Situation im Jahr 1945. Dieses frühe Dokument geht bereits über persönliche Memoiren hinaus und zielt auf eine Darstellung der Lagergeschichte ab.

Ein zweites Dokument dieser Art aus der Hand von Harry Naujoks stammt aus der Zeit seiner verstärkten vergangenheitspolitischen Aktivität ab den späten 1950er Jahren. In diesen Jahren sagt Naujoks mehrfach in Prozessen gegen Sachsenhausener SS-Männer aus und gilt als kenntnisreicher und zuverlässiger Zeuge. 1958, zwei Jahre nach dem Verbot der KPD in der BRD, stellt er 57 Seiten mit zeitlich geordneten Lagerereignissen zum »Versuch einer Chronologie des Konzentrationslagers Sachsenhausen 1936–1945« zusammen. Diese Schrift dokumentiert die bereits erwähnte archivalische Tätigkeit, denn enthalten sind nicht nur eigene Erinnerungen und Wissen von anderen ehemaligen Häftlingen, sondern auf systematische Art und Weise auch Erinnerungsberichte und Veröffentlichungen zu Sachsenhausen in verschiedenen Sprachen. Im Rückblick bezeichnet Naujoks später selbst dieses Vorhaben als ein Projekt »kollektiver Geschichtsschreibung«.

Die Beteiligung von Martha Naujoks an dieser Erinnerungsarbeit verdient eine eigene Betrachtung. Seit ihrer Jugend aktives Mitglied der kommunistischen Bewegung, kommt sie in den 1920er Jahren nach Hamburg. Dort lernt sie auch Harry kennen. Nach 1933 ist sie Funktionärin der illegalen KPD im Widerstand, kann aber vor ihrer zweiten Verhaftung fliehen und geht mit Parteiauftrag 1936 nach Moskau. Dort wird sie während des »Großen Terrors« aus der Partei ausgeschlossen und steht unter Verdacht, in Hamburg die Widerstandsstrukturen an die Gestapo verraten zu haben. Auch wird ihr der schwerwiegende Vorwurf der Nähe zu den »Versöhnlern« gemacht. Zwei Jahre kämpft sie, in ihren politischen Gewissheiten erschüttert und sicher auch in Angst um ihr Leben, um die Wiederaufnahme in die Partei und gegen die Vorwürfe. 1939 hat sie damit tatsächlich Erfolg und besucht nun sogar die Komintern-Schule in Kuschnarenkowo. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland ist sie erst in Berlin, dann in Hamburg wieder aktiv für die KPD, unter anderem bei deren Theorie-Zeitung »Weg und Ziel«. Wieder vereint mit ihrem Ehemann und Genossen, beteiligt sie sich an der Dokumentation und Erinnerungsarbeit von dessen Haft- und Widerstandsgeschichte während des Nationalsozialismus. Für die Geschichte ihrer eigenen Verfolgungserfahrung im lebensgefährlichen Exil in der sowjetischen »Heimat der Werktätigen« ist dagegen kein Platz, er bleibt politisch unsagbar. Es ist gut möglich, dass es auch kein Wunsch von ihr war, darüber zu sprechen. Im Rückblick trug sie jedenfalls über Jahrzehnte wesentlich dazu bei, dass das politische Leben ihres Mannes öffentlich wurde – während ihr eigenes stets im Privaten verblieb.

Verstetigung der Arbeitsstruktur

Etwas mehr als zehn Jahre nach dem »Versuch einer Chronologie« schaffen Harry Naujoks und Genoss*innen sich eine feste Arbeitsform, um das Projekt einer gemeinsamen Geschichtsschreibung weiterzutreiben. Die Adenauer-Jahre und deren aggressiver Antikommunismus sind vorbei, mit der DKP existiert seit 1968 in der Bundesrepublik wieder eine legale kommunistische Partei. (Auch wenn ihre Kritiker*innen diesen Kommunismus für merkwürdig handzahm halten. »Sie schritten und schreiten gemessen dahin, nie aus«, schreibt der linke Politikwissenschaftler Johannes Agnoli schon 1969.) Zu dieser Zeit richtet sich der politische Blick im Übrigen nicht nur auf 1933, sondern auch auf 1923: Harry und Martha Naujoks und ihre Hamburger Genossen sind die Zeug*innen, die im Dokumentarfilm »Der Hamburger Aufstand Oktober 1923« (BRD 1971) ausführlich zum katastrophal gescheiterten Aufstandsversuch der KPD in diesem Jahr interviewt werden.

Die Form, mit der eine kleine Runde ehemaliger kommunistischer Sachsenhausen-Häftlinge aus Hamburg ihren Anspruch einer subjektiven, aber überprüften Darstellung des politischen Widerstands in Sachsenhausen umsetzen will, ist beeindruckend: Ab 1972 kommen in unterschiedlicher Zusammensetzung acht Genossen etwa alle vier Wochen mit Harry und Martha Naujoks zu den bereits erwähnten »Kumpelgesprächen« zusammen, und das über zehn Jahre hinweg. Sie nennen sich auch die Hamburger »Sachsenhausen Geschichtskommission« und verfolgen das Ziel, eine sachlich richtige, belegbare historische Monographie zur Lagergeschichte zu veröffentlichen. Die Belegbarkeit ist der Runde insbesondere deshalb wichtig, um kein Material für den Vorwurf »kommunistischer« Propaganda-Erinnerung zu bieten. Die ehemaligen Häftlinge verfolgen ihr Vorhaben zu einer Zeit, als es in der BRD erst wenige ernst zu nehmende Publikationen zu den Konzentrationslagern gibt, geschweige denn öffentliche Erinnerung. Die wenigen Standardwerke stammen von anderen Überlebenden wie Eugen Kogon; einer der wenigen interessierten Geschichtswissenschaftler in den 1960er Jahren ist Martin Broszat, 1965 gibt er die »Anatomie des SS-Staats« mit heraus. Falk Pingels wissenschaftliche Studie »Häftlinge unter SS-Herrschaft« erscheint 1978, als die »Kumpelgespräche« bereits seit sechs Jahren laufen.

Harry Naujoks trägt bei diesen Treffen seine Aufzeichnungen vor und nimmt die folgenden Diskussionen, Bestätigungen und Korrekturen auf Tonband auf. Die Aufnahmen nutzt er zur Bearbeitung des Manuskripts. Auch Teile der »Tatsachen« von 1945 fließen in das Manuskript ein, die »Chronologie« von 1958 dient als Handapparat. Martha Naujoks, mit ihrer eigenen Erfahrung und politischen Ausbildung in der Zeit zwischen 1933 und 1945, nimmt als redaktionelle und politische Beraterin an den Treffen teil. »Die Begriffe, ne, Rote, Grüne, Ihr wisst das alle«, stellt sie etwa fest, betont aber, diese Häftlingskategorien – der »Politischen« und der »Berufsverbrecher« – müssten im Buch erklärt werden, damit »die Leute verstehen, was das heißt«. Auch wenn Harry Naujoks als ehemaliger Lagerältester und langjähriger Parteifunktionär die Zentralfigur des Redaktionskreises und letztlich der Autor der diskutierten Zeilen ist, sind die Diskussionen ein echter Meinungsaustausch und Widerspruch bleibt Widerspruch: »Das ist doch Quatsch, einfach Unsinn!«, lautet etwa eine Widerrede zu Naujoks’ Darstellung der Situation der Funktionshäftlinge im Sommer 1981. Entsprechend zeigt das handschriftliche Manuskript des Lagerberichts, das im Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen einzusehen ist, zahlreiche Korrekturen schon durch Harry Naujoks selbst.

Naujoks, 1903 geboren, stirbt im Oktober 1983. Ein Jahr zuvor stellt er das Manuskript zur Geschichte des KZ Sachsenhausen und seinen eigenen Erlebnissen dort fertig. Auf 720 eng beschriebenen Seiten ist handschriftlich festgehalten, was nach Naujoks Erinnerung und den Erkenntnissen der »Sachsenhausen Geschichtskommission« zwischen 1936 und 1942 im KZ Sachsenhausen passierte und was den Charakter des Lagers ausmachte. Die Schrift vereint in chronologischer Reihenfolge zentrale Ereignisse des nationalsozialistischen »Modelllagers« Sachsenhausen – Gründung, Erweiterung des Lagers, Inhaftierung von sogenannten Asozialen, Mord an sowjetischen Kriegsgefangenen – mit Erlebnissen von Harry Naujoks und den Häftlingen des kommunistischen Netzwerks im Lager. Dabei ist offensichtlich, dass Naujoks hier aus der Perspektive der inhaftierten KPD-Mitglieder und deutschen Funktionshäftlinge schreibt und dass er eine »kollektivistische« Sicht auf das Lager und seine Häftlinge hat: Die Erfahrung der völlig vereinzelten Häftlinge, die orientierungslos der Willkür des Lagers und der Lagersprache Deutsch ausgeliefert sind, ist ihm fremd; die unmittelbare Lebensgefahr, wie sie für jüdische und viele sowjetische Häftlinge besteht, trifft ihn nicht. Gleichwohl begibt er sich durch seinen Einsatz für die Häftlinge bewusst in verstärkte Lebensgefahr. Angesichts dieser Grundperspektive ist es bemerkenswert, wie differenziert und empathisch, nicht herablassend, Naujoks über Häftlinge schreibt, die als »Asoziale« oder »Berufsverbrecher« verhaftet wurden.

Lektorat und Veröffentlichung

Nach dem Tod von Harry Naujoks erfährt der Text, den er 1945 begonnen hatte, seine nächste Metamorphose. Martha Naujoks gewinnt Ursel Hochmuth, Historikerin und Tochter der Ravensbrück-Überlebenden Katharina Jacob, als Lektorin. Bevor diese ihre Arbeit beginnen kann, müssen allerdings Martha Naujoks und einige Mitstreiter*innen das Manuskript ordnen und per Schreibmaschine in ein Typoskript verwandeln, das nun etwa 500 Seiten umfasst. Es folgt das Lektorat durch Fritz Winzer, ehemaliger Sachsenhausen-Häftling und Teilnehmer der »Kumpelgespräche«, und – federführend – Ursel Hochmuth sowie die weitere Bearbeitung durch den Röderberg-Verlag. Dort erscheint der Text 1987 unter dem Titel »Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936–1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten«. Zwei Jahre darauf veröffentlicht der Berliner Karl Dietz Verlag das Buch ebenfalls, ergänzt um einen Bericht aus dem KZ Flossenbürg.

Die Veränderungen am Text, die großteils über Notizen, Streichungen und den Vergleich zur Druckfassung nachzuvollziehen sind, stellen eine durchaus kunstfertige Veränderung der Sprache und des Charakters von Harry Naujoks kollektiv erarbeiteten Lagererinnerungen dar. Es sind zwar weder ereignisgeschichtlich oder politisch relevante Teile gestrichen, noch sind substanzielle Abschnitte neu hinzugekommen. Aber durch eine Vielzahl kleiner Streichungen und Korrekturen an Stil und Vokabular wurden zwei Veränderungen erreicht, die dem Text, verglichen mit Naujoks‘ handschriftlicher Urversion, ein anderes Gesicht geben. Dies betrifft nicht die Reihe von Streichungen, faktischen Erläuterungen und Umstellungen, die dem Textfluss dienen und Redundanzen entfernen. Aber es sind deutliche programmatischen Veränderungen erkennbar, die als Versachlichung und Distanzierung beschrieben werden können. Dazu gehört eine Anzahl von Stellen, an denen umgangssprachliche und drastische Sprache zugunsten eines formalen, fast bürokratischen Stils entfernt wurde: Da wird etwa »Feierabend« zu »Arbeitsschluss«, »soffen« zu »tranken« und aus der Drohung des SS-Mannes gegenüber Naujoks, ihn »abzuknallen«, die Warnung, ihn mit »Arrest« zu bestrafen. Auch einige der Episoden, die brutale Gewalt und das Elend der Häftlinge drastisch schildern, sind nicht im Buch enthalten.

Als Ergebnis der sachlicheren Sprache und der Reduzierung des Terrors ergibt sich unter anderem, dass die kommunistischen Häftlinge im Lager souveräner erscheinen und ihr Wirken einflussreicher. Im Gegensatz zum Typoskript spricht im Buch weniger der KZ-Häftling, der trotz aller Bemühungen der Willkür der SS ausgeliefert ist, und mehr der Funktionär der Arbeiterbewegung, der die »Interessen der Gefangenen« im faschistischen Lager vertritt. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass das Lektorat mit der erwähnten Absicht der Distanzierung mehrmals Ereignisse streicht, die Naujoks und Genossen in die Nähe von moralisch unlauterem Verhalten oder Komplizenschaft mit der SS rücken. Dabei müssen diese nicht einmal am Geschehen beteiligt sein, schon die Schilderung kann ausreichen. So ist zum Beispiel die Angabe entfernt, dass »grüne« Blockälteste um gestohlenes Eigentum jüdischer Häftlinge spielen. Weitere Streichungen, darunter Detailbeschreibungen des trickreichen Umgangs der Funktionshäftlinge mit der SS, bestätigen den Eindruck, dass hier ein narrativer Abstand geschaffen werden sollte zur »Grauzone«, die in den Konzentrationslagern die Grenze zwischen Täter*innen und Opfern verwischen konnte.

Bedeutung für die Gegenwart

Dass der Sachsenhausen-Bericht von Harry Naujoks von der Urschrift bis zur Druckfassung seinen Charakter wandelte, ändert indes nichts an der Bedeutung des Buchs selbst. In den 1990er Jahren gehörte er zu den verlässlichen und umfassenden Darstellungen der Lagergeschichte, auf die auch die historische Forschung zurückgriff. Und noch in Hermann Kaienburgs hoch gelobter Gesamtdarstellung von Sachsenhausen als »Zentrallager des KZ-Systems«, erschienen 2021, dient Naujoks‘ Buch wiederholt als Quelle, mehr als 30 Jahre nach dessen Veröffentlichung. Dennoch erfuhr »Mein Leben im KZ Sachsenhausen« in mehr als drei Jahrzehnten keine Neuauflage. Dies war für einige geschichtlich Interessierte aus Hamburg nun Anlass, sich dieses Vorhabens anzunehmen: Die Gruppe »Kinder des Widerstands« ist ein Zusammenschluss von Kindern und Enkel*innen von Widerstandskämpfer*innen und hat bereits ähnliche autobiografische Texte veröffentlich. Sie wird im Verein mit dem Nachfahren Rainer Naujoks und assoziierten historischen Facharbeiter*innen ein umfangreiches Lesebuch zum Leben und Wirken von Harry und Martha Naujoks herausgeben; Rainer und den anderen ist übrigens auch für hilfreiche Hinweise zu diesem Artikel zu danken.

Im Naujoks-Lesebuch wird einerseits der hier beschriebene Sachsenhausen-Bericht neu aufgelegt und dessen Entstehungsgeschichte wie historiografische Bedeutung skizziert werden. Auch das Lektorat wird, soweit rekonstruierbar, beschrieben und in ausgewählten Beispielen sichtbar gemacht. Hinzu kommen die – bisher noch unveröffentlichten – Tagebuchaufzeichnungen von der Wanderung im Mai 1945 und Informationen zu Harry Naujoks‘ politischer Biografie vor 1933. Des Weiteren wird auch das Leben von Martha Naujoks als eigenständige kommunistische Akteurin beleuchtet, das erste Mal angemessen in Form und Ausmaß. Die so entstandene Doppelbiografie wird wiederum eingerahmt von umfangreichem Bildmaterial und historischen Dokumenten zur Geschichte der KPD und des kommunistischen Widerstands. Schließlich folgen politische Texte zur aktuellen Erinnerungspolitik und zur Vergangenheit und Wiederkehr faschistischer Bewegungen.

So erfährt der Text des Kommunisten Harry Naujoks über das KZ Sachsenhausen, der 1945 erste Formen annahm und über viele Stationen kurz vor dem Ende von »Bonner Republik« und DDR an die Öffentlichkeit kam, nun eine neue Metamorphose; ihm wird ein Teil dessen, was das Lektorat der 1980er Jahre entfernte, wieder an die Seite gestellt. Ob etwas zu lernen ist von dem Lagerbericht aus Sachsenhausen, von der Analyse seiner Entstehungsgeschichte und den Betrachtungen zur Vergangenheit des Kommunismus oder zur Gegenwart des Faschismus, ist offen. Einige aus der Redaktionsgruppe des Lesebuchs hoffen es, Interessierte können es hoffentlich noch 2022 herausfinden – und die politische Situation, könnte eine*r sagen, erfordert es: Aktuell scheinen neue faschistische Erfolge wahrscheinlicher als die Wiederkehr kommunistischer Aufstände. Irgendwas müssen wir als Antifaschist*innen uns dazu einfallen lassen …

Zum Weiterlesen:

Harry Naujoks: Mein Leben im KZ Sachsenhausen. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten (1936–1942), Karl Dietz Verlag 1990.

https://kinder-des-widerstands.de/

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