- Wirtschaft und Umwelt
- Lebensmittelknappheit
Knappheit infolge des Krieges
Russland fordert ein Sanktionsende für Getreideexporte. Die Ukraine transportiert per Zug und Binnenschiff
Die Kosten sind so hoch wie nie zuvor: Der Preis für eine Tonne Weizen bewegte sich vergangene Woche am europäischen Terminmarkt zwischen 420 Euro und 440 Euro. Für Futtergerste musste man über 380 Euro zahlen, Mais wurde für 364 Euro je Tonne angeboten. Gründe für diesen Preisauftrieb gibt es genügend: Weltweite Logistikprobleme zeigen sich auch im Agrarhandel. China hamstert aus Angst vor Versorgungsengpässen, Indien verkündet Exportbeschränkungen, Argentinien hebt die Ausfuhrzölle an, Produktionsausfälle in der EU und den USA kommen hinzu.
Und dann ist da vor allem noch der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Er zeigt, wie schnell sicher geglaubte Handelsbeziehungen und Lieferketten zusammenbrechen können. Dadurch drohen weitere Hungersnöte in den ärmeren Regionen der Welt, die neue Verteilungs- und Flüchtlingsprobleme auslösen könnten. Die politische Instabilität könnte zunehmen, neue Kriege ausbrechen.
Russland ist der wichtigste Exporteur von Nahrungsgetreide. Auf Platz zwei folgt die EU und mit deutlichem Abstand Kanada, die USA, die Ukraine und Argentinien. Die Regierung in Moskau rechnet für 2022 – trotz fünf Prozent geringerer Anbaufläche gegenüber 2021 – mit einer Ernte von 130 Millionen Tonnen Getreide, darunter 87 Millionen Tonnen Weizen. Dies ist nur etwas weniger als die Rekordernte im Jahr 2020, in der man 133,5 Millionen Tonnen Getreide, darunter 85,9 Millionen Tonnen Weizen, von den Feldern holte.
In einem Telefonat mit dem italienischen Regierungschef Mario Draghi forderte Russlands Präsident Wladimir Putin kürzlich erneut die Aufhebung der Sanktionen. In diesem Fall stünde einem Getreide- und Düngerexport, mit dem die drohende Lebensmittelkrise abgewendet werden könnte, nichts im Wege, so Putin. Auch am Samstag zeigte er sich im Telefongespräch mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron bereit, Wege »für einen Getreideexport ohne Hemmnisse zu finden«. Für russisches wie für ukrainisches Getreide. Doch erneut fiel der Begriff »Sanktionsstopp«.
Macron hat unterdessen schon mal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan über Möglichkeiten beraten, wie das ukrainische Getreide aus dem Land gebracht werden kann. Die EU, so hört man von Militärs, plant eine entsprechende Marineoperation. Gute Dienste könnten auch die Vereinten Nationen leisten. Diese haben diesbezüglich ein spezielles Interesse, denn ihr Welternährungsprogramm ist auf alle möglichen Lieferungen angewiesen.
Vordergründig geht es erst einmal um 22 Millionen Tonnen Getreide, Sonnenblumenkerne und andere Lebensmittel, die die Ukraine bereitgestellt hat. Doch wegen der russischen Angriffe könnten die nicht nach Asien, Afrika und in europäische Länder gelangen, betonte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Aus ukrainischer Sicht blockiert Russland zielstrebig auch die von seinen Truppen noch nicht eroberten Schwarzmeerhäfen. Mehr noch: Die Aggressoren hätten bereits 400 000 bis 500 000 Tonnen Getreide gestohlen, behauptet der Ständige Vertreter der Ukraine bei den Vereinten Nationen in New York, Serhij Dwornyk. Er warnte mögliche Abnehmer: Alle Kornschiffe, die jetzt Sewastopol verlassen, seien mit gestohlenen ukrainischen Produkten beladen.
Moskau seinerseits hat die Ukraine bereits mehrfach aufgefordert, ihren Küstenstreifen zu entminen, damit ein Korridor für die Getreideausfuhr eingerichtet werden könne. Das aber betrachtet der Generalstab in Kiew als zusätzliches Einfallstor für die russischen Streitkräfte.
Der ukrainische Landwirtschaftsminister, Mykola Solskyj, erwähnte weitere Fakten, die zu Aussaat-, Ernte- und Lieferschwierigkeiten führen. Es mangele den Landwirten an Technik, Treibstoff und Arbeitskräften. Beides habe man an die Front abgeben müssen. So hat die Ukraine seit Anfang Mai nur etwa 617 000 Tonnen Mais, 16 000 Tonnen Weizen und 8000 Tonnen Gerste exportiert. Das ist deutlich weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Da standen laut dem Landwirtschaftsministerium 1,8 Millionen Tonnen zum Export bereit. Die Bauern, so hieß es weiter, hätten die Aussaat von Sommergetreide für die Ernte 2022 fast abgeschlossen. Dabei liege die Rate um ein Viertel unter der zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres. Laut Ministerium sind 14,2 Millionen Hektar mit Sommergetreide und Mais bestellt. 2021 waren es noch 16,9 Millionen Hektar.
Zum Vergleich: Die EU-Kommission rechnet aktuell mit einer Produktion von 296 Millionen Tonnen Getreide. Der Verbrauch in der EU wird mit 258 Millionen Tonnen veranschlagt. Wobei lediglich 23 Prozent für Nahrungszwecke eingesetzt werden. Die Industrie verarbeitet 29 Millionen Tonnen Getreide, 11 Millionen Tonnen davon werden zu Bioethanol verarbeitet. Verfüttert werden 159 Millionen Tonnen. Das überschüssige Getreide verkaufen die EU-Staaten traditionell an Länder wie Algerien, Ägypten, China, Nigeria, Marokko sowie an zahlreiche andere Staaten im Nahen Osten, Nordafrika und Asien. Dabei war Russland stets ein ernstzunehmender Konkurrent.
Weil Hochseehäfen für den Export des ukrainischen Getreides ausfallen, suchen Verkäufer wie Käufer andere Wege. Da kommt unter anderem die Ukraine-Donau-Reederei ins Spiel. Sie will in den Häfen Reni und Ismajil mehr Getreide umschlagen. Die beiden Städte an der Donau liegen in unmittelbarer Nähe zu Rumänien. Von dort kann man die Fracht dann ungestört in alle Welt verschiffen. Zusätzliche Leistungen bietet die Bahn. Man habe eine »Nachschubbrücke« eingerichtet, um Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen, sagte Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) auf dem Weltverkehrsforum Mitte Mai in Leipzig. Jetzt gehe es darum, eine »Getreidebrücke« zu schaffen.
Anfänge gibt es bereits. Die ukrainische Eisenbahngesellschaft Ukrzaliznytsia transportierte im März 416 000 Tonnen und im April 638 000 Tonnen Getreide. In Kürze werde man den Getreideexport auf 1,5 Millionen Tonnen steigern, sagte Vorstandsmitglied Wjatscheslaw Eremin. Alleine ist die Ukraine dazu nicht in der Lage. Daher fahren Tochterfirmen der deutschen DB Cargo täglich mehrere Getreidezüge nach Polen und Rumänien, die Österreichischen Bundesbahnen sind ebenfalls aktiv, unter anderem via Slowakei. Und bei der EU in Brüssel versucht man, Anrainerstaaten zu überzeugen, dass sie rasch ausreichend Waggons zur Verfügung stellen.
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