Ohrfeige für das politische Establishment

In Kolumbien trifft Linkskandidat Gustavo Petro in der Stichwahl auf Außenseiter Rodolfo Hernández

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf den ersten Blick heißt der Sieger der kolumbianischen Präsidentschaftswahlen Gustavo Petro. Mit 40,3 Prozent der Wählerinnen-Stimmen lag der 62-jährige Kandidat des linken Sammelbeckens Pacto Histórico weit vor Rodolfo Hernández, der auf 28 Prozent der Stimmen kam. Für Petro ist dieser erste Wahlgang ein »Triumph«, wie er nach Auszählung vom Gros der Stimmen Sonntagnacht in Bogotá erklärte: »Diese Wahl hatte eine klare Nachricht an die Welt: Eine Ära ist zu Ende gegangen.« – die Ära des liberal-konservativen Establishments, dass Kolumbien mehr als fünfzig Jahre regierte.

Der konservative Kandidat Federico »Fico« Gutiérrez landete mit nur 24 Prozent der Stimmen an dritter Stelle und ist nicht für die Stichwahl am 19. Juni qualifiziert. Die Wähler*innen haben einem »Weiter so« eine klare, kaum erwartete Absage erteilt und sich zumindest auch indirekt gegen den Strippenzieher im Hintergrund, Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez, ausgesprochen. Der hat die vergangenen 20 Jahre Kolumbiens Politik geprägt. Erst als Präsident, der 2002 bis 2010 auf die Militarisierung der Gesellschaft setzte, um die linken Guerillas in Kolumbien förmlich auszulöschen, dann als Ziehvater des amtierenden Präsidenten Iván Duque, der sich de facto weigerte, ein demokratisch legitimiertes Friedensabkommen mit der Farc-Guerilla zu implementieren. Das hat dazu geführt, dass der Krieg wieder aufgeflackert ist. Das belegen 79 Morde an sozialen Anführer*innen allein in diesem Jahr. Hinzu kommen 21 Farc-Guerilleros im gleichen Zeitraum laut der Menschenrechtsorganisation Indepaz und 44 Opfer von Antipersonen-Minen bis Anfang April. Mehr als Indizien dafür, dass der Krieg längst wieder real ist in einem Teil des kolumbianischen Territoriums.

Gegen Krieg und für friedliche Lösungen hat die große Mehrheit der Kolumbianer*innen gestimmt. Die klare Absage an die alte Elite mit Federico »Fico« Gutiérrez an der Spitze, hinter dem Álvaro Uribe Vélez stand, geht jedoch nicht einher mit einem von der Linken erhofften Sieg im ersten Wahlgang. Zwar hat Gustavo Petro mit 8,3 Millionen Wählerinnenstimmen sein Ergebnis von 2018 noch einmal steigern können, aber eben nicht die nötigen 50 Prozent im ersten Wahlgang erreicht. Das haben viele Beobachter von vornherein für wenig realistisch gehalten, darunter der ehemalige Richter Iván Velásquez oder der Direktor der kolumbianischen Juristenkommission Gustavo Gallón. Aber auch sie haben einen Lagerwahlkampf erwartet und nicht den Aufstieg des 77-jährigen Bauunternehmers Rodolfo Hernández. Dem formal unabhängigen Kandidaten, ehemaliger Bürgermeister der Stadt Bucaramanga, gelang ein Überraschungserfolg im 1. Wahlgang. Mit klaren Parolen wie »Nicht lügen, nicht rauben, nicht betrügen, Null Straflosigkeit« ist er gegen Vetternwirtschaft und Korruption angetreten. Anders als Gustavo Petro hat er jedoch kein dezidiertes Wahlprogramm vorgelegt, sondern attackiert das Establishment. »Heute haben die Politikerfamilien verloren, die dachten, sie könnten ewig an der Macht bleiben. Heute haben die Bürger und Kolumbien gewonnen«, so Hernández per Live-Stream nach den ersten Hochrechnungen. In den sozialen Medien ist Hernández ausgesprochen erfolgreich, bezeichnet sich selbst als der »Alte von TikTok«.

Noch am Wahlabend sprach sich der geschlagene konservative Kandidat Federico »Fico« Gutiérrez dafür aus, Hernández den Rücken zu stärken. Sollte sich das konservative Lager komplett auf die Seite von Hernández stellen, was zu erwarten ist, könnte Gustavo Petro wie 2018 auf der Zielgeraden abgefangen werden. Das ist kein abwegiges Szenarium, allerdings wird sich in den nächsten drei Wochen zeigen, ob Hernández auch Antworten auf die drängenden Probleme Kolumbiens hat: Jugendarbeitslosigkeit, der schwelende Bürgerkrieg oder die immer stärker werdenden Drogenbanden. Für all diese grundlegenden Probleme des Landes hat Gustavo Petro bereits Strategien und Antworten vorgelegt. Die werden nun von Rodolfo Hernández erwartet, und einige Abgeordnete des Pacto Histórico wie Alirio Uribe Muñoz sind gespannt, ob sich Hernández nicht genau die Stimmen und Strukturen sucht, die er im Wahlkampf so kritisierte. Unstrittig ist aber, dass sich auch die Strategie von Gustavo Petro und seinem Pacto Histórico ändern muss. Hernández ist eine neue Herausforderung.

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