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Bedingungsloses Bleiberecht
Im Vorfeld der Innenministerkonferenz fordern Menschenrechtsorganisationen die Umsetzung der Bleiberechtsreform aus dem Koalitionsvertrag – und einen Abschiebestopp durch die Minister*innen der Länder
Geschichten wie seine gibt es in Deutschland Tausende: Herr C. lebt seit fünf Jahren in Deutschland, er ist verheiratet, hat seinen Freundeskreis hier, seine Arbeit, sein Leben. Und doch wollte ihn die Ausländerbehörde Magdeburg abschieben (nd berichtete). Wie er leben hierzulande 242 000 geflüchtete Menschen mit dem unsicheren Status der Duldung, der Großteil von ihnen schon seit vielen Jahren. Die meisten sind aus dem Irak, Afghanistan, Nigeria, dem Iran oder aus russischen Teilrepubliken wie Tschetschenien geflohen.
Die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, die sogenannten Kettenduldungen abzuschaffen: »Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, sollen eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen«, heißt es dort. Außerdem sollen »gut integrierte« Jugendliche nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland und bis zum 27. Lebensjahr die Möglichkeit für ein Bleiberecht bekommen, Erwachsene nach sechs, Familien nach vier Jahren.
Doch bis jetzt wurde kein Gesetzentwurf dazu eingebracht. Jibran Khalil kritisiert darüber hinaus, dass schon im Koalitionsvertrag das Vorhaben an »gute Integration« geknüpft wird: »Wir wissen gar nicht, was mit ’guter Integration’ gemeint ist. Außerdem haben geduldete Menschen oft nicht das Recht zu arbeiten oder Sprach- und Integrationskurse zu besuchen. Wir fordern ein bedingungsloses Bleiberecht für alle Geflüchteten«, sagt er zu »nd.derTag«. Khalil ist Vertreter von Jugendlichen ohne Grenzen und Sprecher eines breiten Bündnisses aus Geflüchteten- und Menschenrechtsorganisationen, die anlässlich der Innenministerkonferenz (IMK) am Donnerstag zu einer Demonstration am Würzburger Hauptbahnhof unter dem Motto »Bleiberecht und Aufnahme jetzt!« aufruft. Parallel zur IMK findet eine Konferenz junger Geflüchteter statt.
Das Bündnis, zu dem unter anderem verschiedene Flüchtlingsräte, Pro Asyl, Seebrücke und die Kindernothilfe gehören, kritisiert, dass die Landesinnenminister*innen trotz der geplanten Reformen weiterhin abschieben. »Mitten in der Nacht, überfallartig werden ganze Familien aus ihren Betten gerissen – obwohl die Ampel-Koalition vereinbart hat, dass sie bleiben sollen. Auch Kinder und Jugendliche, die schon lange hier leben, müssen in Länder zurückkehren, die sie kaum kennen«, heißt es dort. »Wir fordern von der IMK einen allgemeinen Abschiebungsstopp, damit sichergestellt ist, dass Menschen nicht noch schnell abgeschoben werden, bevor das neue Bleiberecht im Bundestag beschlossen wird«, sagt Khalil.
Die Geflüchtetenorganisation Pro Asyl hat zusätzlich eine Bleiberechtskampagne mit dem Titel »Recht auf Zukunft« gestartet. »Es ist überfällig, dass ein Gesetz in den Bundestag eingebracht wird, das das angekündigte Chancen-Aufenthaltsrecht umsetzt«, sagt Geschäftsführer Günter Burkhardt zu »nd.derTag«. Die Geflüchteten dürften nicht die Leidtragenden der langsamen Umsetzung der von den Ampel-Parteien vereinbarten gesetzlichen Neuregelungen werden. Seiner Einschätzung nach könnte diese Gesetzesregelung, im Gegensatz zu anderen Vorhaben der Ampel im Bereich Flucht und Migration, schnell umgesetzt werden. Er befürchtet jetzt aber, dass das Bundesinnenministerium den Koalitionsvertrag unterlaufen und Geflüchtete von dieser Regelung ausschließen könnte, die nach Ansicht der Behörden nicht an ihrer Identitätsfeststellung mitgearbeitet haben. Das Bundesinnenministerium hat Nachfragen des »nd« dazu bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe nicht beantwortet.
Pro Asyl sieht die Länder in der Pflicht: »Wir fordern die Innenministerkonferenz auf, die Ausländerbehörden anzuweisen, schon jetzt niemanden mehr abzuschieben, der unter das angekündigte Chancen-Aufenthaltsrecht fallen würde«, sagt Burkhardt zu »nd.derTag«. Unterstützt wird diese Forderung von großen Firmen wie Ikea, Ben & Jerry’s und Vaude. Volker von Witzleben von der Eismarke Ben & Jerry’s sagt: »Deutschland steht vor einem handfesten wirtschaftlichen Problem: Fachkräftemangel und leere Ausbildungsstellen. Trotzdem werden qualifizierte Mitarbeiter*innen abgeschoben. Wie passt das zusammen? Wir müssen jetzt die Menschen schützen, die unsere Gesellschaft seit Jahren bereichern.« Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) strebt zusammen mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) eine Reform des Fachkräfte-Einwanderungsgesetzes an. Dieses soll Migrant*innen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern und einen »Spurwechsel« über die Beschäftigungsduldung ermöglichen. Bisher ist es für Geduldete kaum möglich, einen regulären Aufenthaltstitel zu erlangen.
Bei den Protesten während der Innenministerkonferenz wird es außerdem einen Schwerpunkt zu Geflüchteten aus Afghanistan geben: »Um der Menschheit willen, bitte hört meine Hilferufe und evakuiert mich aus dieser Hölle. Die Bundesregierung heißt Ukrainer*innen willkommen, aber sie ignoriert und vergisst ihre eigenen Ortskräfte aus Afghanistan«, zitiert das Bündnis eine Ortskraft aus Afghanistan. Das Bundesinnenministerium will bei seinem geplanten Aufnahmeprogramm jährlich maximal 5000 afghanische Flüchtlinge nach Deutschland bringen lassen. Die Organisationen finden das zu wenig. Familienangehörige eingerechnet, helfe man damit in gerade einmal 1000 Fällen. Neben der Auflage von Landes- und Bundesaufnahmeprogrammen für Afghan*innen und der Aufnahme besonders gefährdeter Personen fordert Burkhardt, die Duldungen von bereits in Deutschland lebender Afghan*innen und Syrer*innen in eine Aufenhaltserlaubnis umzuwandeln.
Laut der Pressestelle der Innenministerkonferenz wird eine Vorgriffsregelung zum Thema Bleiberecht kein Thema sein. In seiner Rolle als bayrischer Innenminister teilt Hermann auf Nachfrage mit, die bloße Absichtserklärung von Parteien in einem Koalitionsvertrag lasse die Rechtslage unberührt. Die Ausländerbehörden seien verpflichtet, den Aufenthalt ausreisepflichtiger Personen »durch Abschiebung zu beenden«. Zentrales Thema werden der Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen auf Deutschland sowie Katastrophenschutz und Sicherheit im Digitalen Raum sein. Asyl- und Migrationsfragen werden beim Austausch mit den christlichen Kirchen eine Rolle spielen.
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