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Ein Klassiker als Therapiesitzung
Fußball-Europameister Italien muss sich nach der verpassten WM neu erfinden
Deutschland gegen Italien: Das war mal ein Fußballklassiker. Inzwischen ist es eher zu einer Art Gnadenveranstaltung geschrumpft. Denn der erste Gegner der deutschen Nationalmannschaft in der neuen Nations-League-Saison hangelt sich von Krise zu Krise. Italien schaffte es zuletzt nicht mal mehr zur WM-Endrunde in Katar. Daher wird die Nations League für die Squadra Azzurra nun zum Rehabilitationszentrum. Nationaltrainer Roberto Mancini bastelt mal wieder an einem Neuanfang – es ist bereits der zweite binnen vier Jahren.
Mancini gibt sich dabei vor dem Spiel am Samstag in Bologna pragmatisch-optimistisch. »Die Enttäuschung ist immer noch riesig. Aber warum soll uns nicht gelingen, was uns schon einmal gelang? Man muss hart arbeiten und daran glauben«, bezog er sich auf das erste »Anno Zero«, das Verpassen der WM 2018 in Russland. Damals scheiterte Italien voller Angst, ohne Spielidee, lethargisch und überheblich an Schweden. Dann kam Mancini und brachte Ideen sowie Spielwitz ins Team. So wurde Italien im vergangenen Sommer in London sogar Europameister. Beim Verpassen der WM 2022 war – neben aller Versagensangst – immerhin noch etwas Spielkultur erkennbar. Doch das große Manko dieser Auswahl bleibt: Sie schießt einfach keine Tore.
Wen hat Mancini nicht alles im Sturm schon ausprobiert? Den Ex-Dortmunder Ciro Immobile, der bei Lazio Rom mal wieder Torschützenkönig der Serie A wurde, aber im Nationalteam regelmäßig scheitert. Den bulligen Andrea Belotti vom FC Turin, der eine noch bescheidenere Bilanz hat. Das muntere Trio vom Mittelklasseverein US Sassuolo – Domenico Berardi, Giacomo Raspadori und Gianluca Scamacca –, das zwar viel Dynamik bietet, dabei aber auch das Toreschießen vergisst.
Wem von ihnen er in Zukunft vertrauen wird, ist offen. Im Mittelfeld hat Mancini dagegen die geringsten Probleme. Das Spielmacher-Duo Jorginho (30) und Marco Verratti (29) hat noch ein paar gute Jahre vor sich. Vom neuen Meister AC Mailand drängt Top-Talent Sandro Tonali (22) nach. Dahinter stehen noch mehrere andere Spielmacher und Lückenschließer zur Verfügung.
Dünner wird die Luft aber im Angriff. Ein interessanter Mann ist Außenstürmer Alessio Zerbin. Unter dem 2006er Weltmeister Fabio Grosso reifte er beim Zweitligisten Frosinone heran und wurde im Sommer von seinem Ausbildungsklub SSC Neapel zurückgeholt. Er soll dort das Klubidol Lorenzo Insigne ersetzen. Zerbin zeichnet sich durch den direkteren Zug zum Tor und große taktische Flexibilität aus. Er steht auch für das Spiel gegen das deutsche Team am Samstag im Kader. »Ich möchte in Zukunft in jedem Spiel zwei, drei neuen jungen Spielern eine Chance geben«, kündigte Mancini an. Zerbin wäre dafür ein logischer Kandidat.
Zum radikalen Neuanfang gibt es keine Alternative: »Einige Spieler werden nicht weitermachen. Und nicht jeder hat das Alter von Giorgio Chiellini«, sagte Mancini etwas kryptisch nach dem mit 0:3 verlorenen Match am Mittwochabend gegen weitgehend überlegene Argentinier. Defensivrecke Chiellini ist 37 Jahre alt und bestritt gegen die Südamerikameister sein Abschiedsspiel. »Ein Zyklus ist zu Ende. Jetzt wollen wir eine neue Ära mit jungen Spielern aufbauen«, versprach Mancini.
Bereits Ende Mai hatte er gleich 52 Spieler zu einem Sichtungslehrgang eingeladen. Manche kamen aus der Serie A, fristen dort aber nur Reservistenrollen. Gleich sechs Eingeladene spielen beim Absteiger FC Genua. Vier Spieler stellte Zweitligaklub US Cremonese. Der Klub, bei dem 2011 ein großer Wettbetrugsskandal seinen Anfang nahm, legte tatsächlich eine tolle Spielzeit hin und schaffte vor allem dank seiner jungen Spieler den Aufstieg.
Vor allem hofft der Coach nun aber, seine Lehrgänge verstetigen zu können: »In meiner Zeit als Nationalspieler haben wir uns mindestens einmal im Monat auf dem Trainingsgelände der Nationalmannschaft getroffen. Das ist einfach sinnvoll«, meint Mancini. Spitzenspieler dürften für enger getaktete Lehrgänge aber eher selten abgestellt werden. Daher ist die Fokussierung auf Nachrücker nicht unklug. Zumal es einheimische Talente in der Serie A schwer haben, sich in ihren Teams durchzusetzen. »Ich kann den Klubs ja nicht vorschreiben, wen sie aufstellen sollen. Mehr Spielzeit für junge italienische Profis wäre aber gut«, sagt der Nationaltrainer. Strukturell geht Mancini einen interessanten Weg. Ob er damit eine Wiedergeburt schafft, die länger anhält als nur einen Sommer, wie die letzte unter seiner Ägide, wird man erst im nächsten WM-Zyklus sehen.
Aktuell hat sich erst einmal eine Ära ausgehaucht. Am Mittwoch hat sich – bis auf Leonardo Bonucci – die Nachfolgegeneration der WM-Helden von Berlin verabschiedet. Der Weg ist frei für Neues. Ein Symbol dafür war, dass einer der Hoffnungsträger, Linksaußen Zerbin, sein allererstes Zweitligator in der abgelaufenen Saison ausgerechnet gegen Torhüterlegende Gianluigi Buffon erzielte. Buffon verlängert seine Karriere derzeit noch beim Zweitligaklub Parma. Die Episode Buffon–Zerbin illustriert aber auch, dass sich das alte wie das neue Italien aktuell in der Zweitklassigkeit befindet.
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