Verkehrswende geht anders

Klimabahn mit Perspektive statt Kurzzeit-Billig-Ticket

  • Winfried Wolf
  • Lesedauer: 6 Min.

Das 9-Euro-Ticket sei »eine Riesenchance«; noch nie sei »Bahnfahren so günstig« gewesen. Das Nahverkehrsticket werde »ein echter Knaller«; bereits sieben Millionen seien in den ersten Wochen verkauft werden. So tönten Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) und der Beauftragte der Bundesregierung für den Schienenverkehr, Michael Theurer (FDP).

Angesichts von Ukraine-Krieg, Klimanotstand und der Notwendigkeit eines Ausstiegs aus den fossilen Energieträgern ist eine Offensive für den öffentlichen Verkehr im Allgemeinen und für den Schienenverkehr im Besonderen überfällig. Doch das ist bereits alles, was es an Positivem zum 9-Euro-Ticket zu sagen gibt. Die Kritik an der konkreten Form dieser Förderung überwiegt. Das wird mit Sicherheit die Bilanz im September zeigen, die Probleme sind aber auch schon zu Beginn der Maßnahme offensichtlich. Der Rabatt wird die desolate Infrastruktur der Bahn weiter belasten, er wird durch die Kraftstoff-Rabatte geradezu konterkariert. Das Ganze ist, da ohne jegliche Perspektive, schlicht ein teures Strohfeuer.

Seit 2003 gibt es beim Tarifsystem der Bahn ein fatales Splitting: teure allgemeine Tickets gepaart mit Billigangeboten. Die Stammkundschaft wird davon eher abgeschreckt als ermutigt. Vor knapp zwei Jahrzehnten wurde vom damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn ein neues Bahnpreissystem etabliert. Zentraler Bestandteil war die komplette Abschaffung der seit Anfang der 1990er Jahre bewährten Bahncard und ihr behaupteter Ersatz durch eine Bahncard25, die aber faktisch eine Rabattkarte ist. Die klassische Bahncard – nunmehr als Bahncard50 bezeichnet – wurde als Resultat massiver Proteste erst knapp ein Jahr später wieder eingeführt, allerdings verbunden mit der extremen Verteuerung von 140 Euro auf nun 200 Euro in der 2. Klasse. Heute kostet diese Bahncard50 bereits 234 Euro. Auf diese Weise wurde die Zahl derjenigen, die über eine Bahncard50 verfügen, von 3 Millionen auf heute weniger als 1,4 Millionen gut halbiert. Die Preise für die normalen Tickets (heute als »Flex-Preise« bezeichnet) stiegen seit 2003 um 38 Prozent im Fernverkehr und sogar um 59 Prozent im Nahverkehr – und damit rund doppelt so schnell wie die die Inflation. Diese grundsätzlich hohen Bahnpreise wiederum sind gepaart mit vergleichsweise billigen Einzeltickets, allerdings immer mit Zugbindung. Menschen, die eine Bahncard50 oder gar eine Bahncard100 haben, kommen sich regelmäßig veralbert vor, wenn sie mit diesen Billigangeboten konfrontiert werden. Und diese gehören wohlgemerkt zur Stammkundschaft der Bahn.

Dieser verqueren Logik folgt nun auch das 9-Euro-Ticket. Dieses gibt es gerade mal ein Vierteljahr lang. Danach kommt die Rückkehr zum alten, widersprüchlichen System. Es gibt sogar Gerüchte, dass bis Ende 2022 die Preise im öffentlichen Verkehr deutlich angehoben werden sollen – auch um die Verluste aus der 9-Euro-Ticket-Zeit zu kompensieren.

Das 9-Euro-Ticket soll die öffentliche Hand insgesamt gut drei Milliarden Euro kosten. Der Bund zahlt allerdings nur 2,5 Milliarden an die Länder, sodass diese das Defizit von mehr als einer halben Milliarde irgendwie ausgleichen müssen. Zum gleichen Zeitpunkt und für den gleichen Zeitraum gibt es den »Tankrabatt«. Er wird den Bund gut drei Milliarden Euro kosten. Ob es bei einem Geschenk für die Mineralölkonzerne bleibt, die zügig die Spritpreise erhöht haben, oder ob der Rabatt zumindest teilweise bei den Autofahrenden ankommt, ist noch nicht geklärt.

Es kristallisiert sich jedoch folgende Arbeitsteilung in der Ampel-Regierung heraus: Die Grünen können ihrer Klientel sagen, man fahre eine Offensive für den öffentlichen Nahverkehr. Die FDP kann ihrer Klientel mitteilen, es gelte weiter freie Auto-Fahrt für (von Klimaverantwortung) freie Bürger. Die SPD verweist ihre Anhängerschaft darauf, dass bereits im Februar die Erhöhung der Pendlerpauschale vorgezogen wurde und damit höhere Spritpreise teilweise neutralisiert wurden. Damit wird es selbst in dem kurzen Zeitraum, in dem das 9-Euro-Ticket gilt, wohl keine Verlagerung vom Autoverkehr zur Schiene geben. Es soll sogar Pendler geben, die in der 9-Euro-Ticket-Zeit von der Schiene zum Auto wechseln wollen, um die voraussichtlich brechend vollen Zügen zu meiden. Damit wird es auch keinerlei Beitrag zur Linderung des Klimanotstands geben.

Anfang September verschwindet das 9-Euro-Ticket dann wieder. Der Bahnbeauftragte Theurer scheint seine Bilanz aus der Rabatt-Zeit bereits gezogen zu haben. Auf einer Pressekonferenz zum Beginn der Aktion ließ er wissen, ein Ausbau der Schiene und ein größeres Angebot im öffentlichen Verkehr seien nicht sinnvoll. Vielmehr wäre es »ökologisch richtig, zu gucken, dass bestehende Züge besser ausgelastet sind, ohne dass die Personalkosten steigen.«

Dabei hapert es gerade daran: Das Angebot im öffentlichen Verkehr und bei der Bahn ist unzureichend. Das Schienennetz wurde allein seit 1994 um ein Fünftel gekappt. Der Service ist mangelhaft bis schlecht. Die Pünktlichkeitsquote liegt auf einem Rekordtief von rund 70 Prozent. In jeder Woche fallen rund 2000 Züge komplett aus, auch weil tausende Lokführer und Zugbegleiter fehlen. Das Tarifsystem ist systemisch falsch, intransparent und ein Flickenteppich. Die »Wirtschaftswoche« titelte am 30. Mai: »Deutsche Bahn in Jahrhundertkrise – Bahnchef Lutz sendet SOS«. Ampel hör´die Signale – auf zum Klimagefecht!

Nichts dergleichen! Es fehlt der Regierung jegliche Langzeit-Perspektive. Diese könnte im Folgenden bestehen: Einführung eines 365 Euro-Jahrestickets für den Nahverkehr im jeweiligen Bundesland – also für einen Euro am Tag. Und ein Klima-Tickets zum Preis von fünf Euro pro Tag, also für 1825 Euro im Jahr für das gesamte deutsche Bahn- und Nahverkehrsnetz und für alle öffentlichen Nahverkehrssysteme im Land – die Bahncard100, die ungefähr diese Kriterien erfüllt, kostet für die 2. Klasse 4144 Euro.

In Österreich ist man da schon weiter: Das 365-Euro-Ticket gibt es in Wien seit einem Jahrzehnt. Ein landesweites Klimaticket existiert im Nachbarland seit Oktober 2021. Es kostet dort, also in einem deutlich kleineren Land, 1095 Euro im Jahr, also drei Euro am Tag.

Diese beiden Tickets müssten langfristig vorbereitet werden. Dafür muss es eine Investitionsoffensive im öffentlichen Verkehr und insbesondere für die Schiene geben. Wer 100 Milliarden Euro für Hochrüstung ausgibt, kann nicht im Ernst behaupten, für die Verkehrswende und die Bekämpfung der Klimakrise fehle es an Geld. In dem Maß, wie das Angebot im öffentlichen Verkehr verbessert und mit solchen günstigen Mobilitätskarten ermöglicht wird, sollten die Kosten für den Pkw-Verkehr steigen. Zudem sollte der öffentliche Raum für Autos eingeschränkt und für Fußgänger, Radfahrer sowie für Spielplätze, Cafés und Kultur erweitert werden. Tempolimits kosten nichts und bringen schlagartig eine deutliche Reduktion beim Verbrauch von fossiler Energie und bei den Straßenverkehrstoten.

So ginge Verkehrswende und Klimapolitik – wenn man denn wollen würde.

Winfried Wolf ist Mitbegründer der neuen Klimabahn-Initiative, www.klimabahn-initiative.de

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