Wurzener Wunsch nach Wiedergeburt

Linke-Bundeschefin Janine Wissler beginnt Kennenlern-Tour durch den ländlichen Osten

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Linksparteichefin Janine Wissler bereist den Osten.
Die Linksparteichefin Janine Wissler bereist den Osten.

Jens Kretzschmar ist zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. »Hinter dem Fenster«, sagt er und zeigt auf ein Gebäude des Krankenhauses auf der anderen Straßenseite, »wurde ich geboren.« Das war 1973. Inzwischen ist der Bäckerssohn aus Wurzen Kommunalpolitiker der Linken; er sitzt für die Partei im Stadtrat der 16 000 Einwohner zählenden Stadt und bewirbt sich am Sonntag als Oberbürgermeister.

Vor dem Krankenhaus steht Kretzschmar an diesem Tag, weil es Sorgen um die Kinderklinik gibt. Das Management der Muldentalkliniken, die zu 100 Prozent dem Landkreis gehören, plant Presseberichten zufolge eine Verlagerung nach Grimma. Dabei, sagt der Linke-Politiker, übernimmt sie die Grundversorgung für eine große ländliche Region. Ein Umzug würde längere Wege bedeuten und nicht zuletzt die Wurzener Geburtsklinik in Gefahr bringen. »Beides funktioniert nur gemeinsam«, glaubt Kretzschmar. Die Region habe schon etliche Geburtskliniken verloren: in Leisnig, in Oschatz. Die in Wurzen habe einen guten Ruf und laufe ohne Zuschüsse: »So etwas bringt man nicht in Gefahr.« Der CDU-Landrat solle sich vor der Wahl am Sonntag zu dem Standort bekennen.

Bei einer Kundgebung, die Kretzschmar und seine Genossen an diesem Mittwoch organisiert haben, gibt es prominente Unterstützung: Janine Wissler ist gekommen, die Bundesvorsitzende der Linken. Das Land brauche eine »flächendeckend gute Gesundheitsversorgung«, sagt sie und nimmt neben dem Landkreis auch den Bund dafür in die Pflicht. Die Fallpauschalen etwa setzten Häuser wie die Muldentalkliniken unnötig unter wirtschaftlichen Druck: »Sie müssen abgeschafft werden.« Die Ampel-Koalition im Bund wolle sie aber allenfalls modifizieren. Generell sorge die Politik von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) für »ziemliche Ernüchterung«.

Wissler wird in den nächsten Tagen öfter den Bogen von der Bundespolitik zu lokalen Nöten und Problemen schlagen. Der Termin in Wurzen ist der erste einer zweiwöchigen Tour, die sie durch Ostdeutschland führt und dabei vor allem durch ländliche Regionen: Gebiete, die »strukturschwach« sind, in denen Kliniken wackeln, Bahnlinien stillgelegt wurden oder Dorfläden schlossen.

Für Wissler ist es zwar nicht direkt eine Reise ins Unbekannte, aber doch auf weniger vertrautes Terrain. Bei Treffen mit Bürgermeistern, Initiativen oder Betriebsräten wolle sie »viel zuhören und lernen«, sagt sie. Abgehängte Regionen gebe es zwar auch in ihrer hessischen Heimat, betont sie. Was sie von dort aber nicht kennt, ist die Erfahrung tief greifender Strukturbrüche in jüngerer Zeit. In Wurzen, sagt Kretzschmar, erinnert man sich schmerzlich daran, dass der Status als Kreisstadt verloren ging, das Polizeirevier degradiert, das Gericht geschlossen wurde. Nun sei die Klinik gefährdet: »Viele Leute sorgen sich, wo das mal enden soll.«

Strukturschwach ist die ostdeutsche Provinz freilich nicht nur, was Nahverkehr oder gesundheitliche Versorgung anbelangt, sondern auch mit Blick auf die Strukturen und Wahlerfolge der Linken. Diese war als ostdeutsche Regionalpartei einst gut verankert und hatte viele Mitglieder und Mandatsträger. Inzwischen reicht für Treffen von Ortsgruppen vielerorts ein einzelner Tisch, und Kandidierende freuen sich, wenn ihr Wahlergebnis nicht einstellig ausfällt. Auch hier will Wissler die verbliebenen Engagierten ermutigen und ihnen den Rücken stärken, gerade vor kommunalen Wahlen wie am Sonntag in Sachsen.

Eine Werbetour in eigener Sache vor der Wahl, der sich Wissler Ende Juni in Erfurt stellen will, soll die Tour ausdrücklich nicht sein. Erste Termine seien schon zu Jahresbeginn arrangiert worden, lange bevor die Krise der Linken eskalierte, ihre Co-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow das Handtuch warf und eine komplette Neuwahl des Vorstands für Erfurt anberaumt wurde, betont die Politikerin.

Nützlich dürften die Termine in der ostdeutschen Provinz dennoch sein, wenn es um ein Stimmungsbild und vielleicht auch um Anregungen für eine Neuaufstellung der Partei geht. Die sei ihm »zu zahm« geworden, sagt ein Genosse in Wurzen. Ein anderer fügt an, man bemühe sich um Verbesserungen im Alltag, aber »es fehlt eine Vision«. Wissler nickt. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung, merkt sie an, habe kürzlich ergeben, dass 54 Prozent der dafür Befragten »das Thema Sozialismus gestärkt sehen« wollten. Man dürfe sich nicht »auf viele kleine Reparaturen beschränken«, sondern müsse auch »etwas Großes wollen«.

In gewisser Weise versinnbildlicht der Termin in Wurzen also ganz gut, worum es geht. Kommunalpolitiker wie Kretzschmar wollen einen Ort für Geburten erhalten und ihn nicht, wie gemunkelt wird, durch eine geriatrische Abteilung ersetzen. Und auch für die Linke und ihre jetzige und womöglich künftige Chefin geht es in den nächsten Wochen um einen Neuanfang und darum, nicht zu einer Partei zu werden, die sich auf ihr Ende vorbereitet.

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