- Politik
- Linke Debatte
»Wir müssen wirklich Völkerrechtspartei werden«
Die Linke sollte Menschenrechtsverletzungen immer kritisieren – egal, wo sie stattfinden. Anmerkungen zur linken Außenpolitik
Über viele Jahre hatten die PDS bzw. Die Linke feste Positionen in der Außenpolitik, die nun durcheinander geraten sind. Wir sind Internationalisten und müssen es immer bleiben. Wir standen und stehen auf der Seite wirklicher Entwicklungsunterstützung für die sogenannte Dritte Welt. Wir behaupten, eine Völkerrechtspartei zu sein. Wir stellen uns gegen alle militärischen Aktionen und vor allem gegen Krieg, unterstützen überall nationale Minderheiten, die um ihre Chancengleichheit streiten. Aus unserer Sicht waren die USA stets der imperiale Hauptakteur. Die Linke will die Einhaltung der Menschenrechte und kritisiert bestimmte Staaten massiv, wenn es zu Verletzungen kommt. Allerdings sind wir hier nie ganz aufrichtig, weil wir bei bestimmten Staaten Menschenrechtsverletzungen niedriger bewerten, gelegentlich sogar übersehen.
Einiges ist spätestens mit der Aggression Russlands gegen die Ukraine ins Wanken geraten. Fangen wir an mit dem von uns verurteilten Krieg der Nato gegen Jugoslawien. Die ablehnende Haltung Russlands unter Jelzin interessierte die Nato nicht. Hier begann der Bruch zwischen der Nato und Russland. Wir haben den Nato-Krieg als völkerrechtswidrig charakterisiert. Ich bin sogar während der Bombardierung nach Belgrad gefahren und habe mit dem Patriarchen der serbisch-orthodoxen Kirche, dem obersten Vertreter des Islam und dem damaligen Präsidenten Milošević gesprochen. Ich schlug ihm vor, selbst UN-Truppen für das Kosovo zu beantragen, um den Krieg zu beenden. Er lehnte ab und hat später dem Einmarsch auch der Nato-Truppen ins Kosovo zugestimmt. Es gab und gibt den Sicherheitsratsbeschluss 1244, wonach das Kosovo einen hohen Grad an Autonomie erhalten soll, aber Bestandteil Jugoslawiens bleiben muss. Trotz der Zustimmung der USA, Großbritanniens und Frankreichs im Sicherheitsrat, hat es die Nato später nicht interessiert und sie hat das Kosovo losgelöst. Nun beruft man sich auf eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes, wonach die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht völkerrechtswidrig war. Da hat das Gericht auch Recht. Jedes Gebiet kann erklären, was es will. Völkerrechtswidrig ist nur die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch andere Staaten, weil sie gegen den oben genannten Sicherheitsratsbeschluss verstößt. Die Frage der Anerkennung hatte das Gericht aber nicht zu entscheiden.
Alle Bundestagsparteien, die für den Krieg eintraten, können zwar nicht bestreiten, dass er völkerrechtswidrig war, unterstellen aber edle Motive. Abgesehen davon, dass noch kein Staat, der einen Angriffskrieg führte, andere als edle Motive dafür benannte, muss Folgendes gesehen werden. Im Kosovo hatte sich die UÇK gebildet, die bewaffnet für die Unabhängigkeit des Kosovo kämpfte. Deshalb hat die jugoslawisch-serbische Armee gegen die UÇK gekämpft. Dabei sind auch viele Zivilisten ums Leben gekommen. Alle Staaten, die den Krieg befürworteten und befürworten, würden niemals akzeptieren, dass in ihren Ländern eine bewaffnete Gruppe für die Unabhängigkeit eines Teils des Landes kämpft und sie würden ebenfalls bewaffnet dagegen vorgehen. Nur für Jugoslawien sollte dies nicht gelten. Außerdem stand immer die Frage, woher die UÇK die Waffen bezog. Die Linke verurteilte auf jeden Fall den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen Serbien.
Nun haben wir das Problem der Ukraine. Natürlich gehörte die Ukraine über viele Jahrzehnte zu Russland, dann als eigene Republik zur Sowjetunion. Inzwischen ist sie aber ein unabhängiger Staat und das wurde auch von Russland anerkannt. Die Ukraine war schon immer Mitglied der Uno – auch zu Sowjetzeiten –, ist nun aber als souveräner Staat Mitglied der Uno. Es gab einen russlandfreundlichen Präsidenten, der von der EU scharf bekämpft wurde. Er konnte mit 75 Prozent der Stimmen des Parlaments abgelöst werden. Die 75 Prozent wurden nicht erreicht. Das hat aber weder die EU noch die Nato interessiert. Man betrachtete ihn unabhängig von der Verfassung als abgesetzt. Als später Russland auf der Krim einen Volksentscheid durchführte, berief man sich wieder auf die Verfassung der Ukraine, die das nicht zuließ. Ich meine, eine Verfassung gilt immer oder sie gilt nicht. Es geht nicht, einen Teil anzuwenden und den anderen auszuklammern. Es gab dann eine neue Regierung. Im Jahre 2014 saßen sogar Faschisten in der Regierung, was auch von mir in einer Rede im Bundestag deutlich kritisiert wurde.
Unabhängig davon hat Russland völkerrechtswidrig militärisch die Krim annektiert, was zu verurteilen war. Wir haben es verurteilt, andere auch. Dadurch, dass die Ukraine plötzlich in die Nato wollte, konnte man irgendwie verstehen, dass Russland nicht zuließ, dass seine Schwarzmeerflotte irgendwann inmitten der Nato steht. Trotzdem – eine Völkerrechtsverletzung ist immer eine Völkerrechtsverletzung. Und ein Volksentscheid konnte nach der ukrainischen Verfassung nur im gesamten Land stattfinden und nicht allein auf der Krim. Als ich das allerdings in Moskau vortrug, wurde mir erklärt, dass Gibraltar lange zu Spanien gehörte und Großbritannien nach 1945 nicht bereit war, Gibraltar herauszugeben. Daraufhin wurde kein Einvernehmen mit dem Gesamtstaat Spanien hergestellt, sondern von Großbritannien nur ein Volksentscheid auf Gibraltar organisiert, wo eine Mehrheit von Briten lebte. Ich stelle fest, bei fast jeder Völkerrechtsverletzung eines Staates kann er sich immer schon auf eine vorhergehende eines anderen Staates berufen. Die strikte Einhaltung des Völkerrechts müssen wir immer und von allen Seiten fordern. Als die Ukraine in die Nato wollte war US-Präsident George W. Bush für die Aufnahme, Deutschland und Frankreich waren dagegen. Heute denken viele, dass das falsch war, weil im Falle einer Aufnahme ein Angriff Russlands gegen die Ukraine den Bündnisfall ausgelöst hätte. Aber ich bin davon überzeugt, dass Russland die Aufnahme nicht zugelassen und dann schon vorher einen Krieg geführt hätte. Der Fehler von Frankreich von Deutschland bestand allerdings darin, nicht zu erklären, dass eine Aufnahme nie infrage käme, sondern nur damals nicht stattfinden durfte.
Nun bin auch ich davon überzeugt, dass die Nato nicht die Absicht hat, Russland zu überfallen, schon weil es den dritten Weltkrieg auslöste. Aber die russische Führung sieht das anders. Sie fühlte und fühlt sich immer mehr eingekreist und tatsächlich rücken Nato-Soldaten immer näher an die russische Grenze heran. Und dann kam es zu einem Gezerre um die Ukraine. Sowohl Russland als auch die EU wollten die Ukraine jeweils für sich haben. Sie schlugen Verträge unter der Bedingung vor, dass es mit der jeweils anderen Seite keine Verträge gäbe. Beide Seiten waren nicht bereit, den Versuch zu unternehmen, aus der Ukraine eine Brücke zwischen der EU und Russland zu machen.
Die Sicherheitsinteressen Russlands haben die Nato nie wirklich interessiert. Zwar wurde bei den Verhandlung von Zwei-Plus-Vier versprochen, dass es keine Erweiterung der Nato gäbe, aber es wurden dann vierzehn Staaten aufgenommen. Niemals würden die USA es hinnehmen, wenn Russland mit zwei souveränen Staaten, nämlich Kuba und Mexiko, vereinbarte, dass russische Raketen auf Kuba und in Mexiko stationiert werden. Aber von Russland verlangte man, die Aufrüstung von Nachbarländern durch die Nato hinzunehmen. Das gilt auch für die Ukraine. Andererseits muss man berücksichtigen, dass viele ehemalige Sowjetrepubliken und ehemalige staatssozialistische Länder fürchteten und fürchten, von Russland überfallen und auf unterschiedliche Art und Weise zurückgeholt zu werden. Einerseits versuchte also die Nato Russland in Schach zu halten. Und andererseits gibt es die genannten Befürchtungen.
Die russische Führung unter Putin führt einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dabei versuchten sie nicht nur das Argument der Bekämpfung der Nazis heranzuziehen. Dieses ist nicht glaubwürdig, weil die Faschisten zwar 2014 mit etwa 13 Prozent im Parlament saßen und eben auch in der Regierung, aber inzwischen aus dem Parlament und aus der Regierung ausgeschieden sind. Natürlich gibt es sie noch, aber das gilt für viele Staaten. Die zweite Begründung Russlands ist interessanter. So wie die UÇK im Kosovo, gab es auch bewaffnete Kräfte im Donbas-Gebiet, die für eine Unabhängigkeit kämpften. Bewaffnet wurden sie von Russland. Die ukrainische Armee hat so wie damals die jugoslawische Armee diese bewaffneten Separatisten bekämpft. Dabei kamen wie beim Kosovo auch viele Zivilisten ums Leben. Während für die anderen Parteien im damaligen Bundestag und die Nato-Staaten dieser Kampf gegen die Separatisten beim Kosovo wegen toter Zivilisten einen Grund für einen Krieg darstellte, akzeptieren sie heute nicht, dass für Russland dies ein Grund ist, einen Krieg zu führen, obwohl eben auch Zivilisten ums Leben kamen. Diese Haltung können und müssen wir scharf kritisieren. Aber da wir das Argument der Nato damals nicht akzeptierten, können wir heute nicht umgekehrt argumentieren und es plötzlich für berechtigt halten, dass Russland zum Schutze dieses Bevölkerungsteils einen Krieg führt. Dann hätten wir es auch bei der Nato für berechtigt erklären müssen. Außerdem wollte die Nato nie ganz Serbien übernehmen und sich auch nicht das Kosovo einverleiben, sondern dieses nur in seine Einflusssphäre holen.
Russland dagegen hatte zumindest zunächst die Ukraine als Ganzes gewollt. Inzwischen kann man davon ausgehen, dass Putin nach der Krim wohl auch den Donbas und einen territorialen Streifen bis zur Krim faktisch annektieren will. Es gibt viele Tote, Verletzte und gewaltige Zerstörungen in der Ukraine. Also müssen wir diesen Angriffskrieg mit voller Schärfe kritisieren. Wir müssen begreifen, dass die russische Führung ebenso imperial denkt wie zum Beispiel die US-amerikanische. Putin scheint von einem Russland in den Grenzen des Zarenreiches zu träumen. Dagegen steht eindeutig das internationale Recht. Russland ist kein sozialistisches Land, sondern ein staatskapitalistisches Regime, das immer autoritärere Strukturen bekommt. Letztlich geht es darum aber nicht, weil das Völkerrecht nicht zwischen Demokratien, autoritären Strukturen und Diktaturen unterscheidet. Wird das Land eines Diktators von außen angegriffen, hat auch dieses Land das Selbstverteidigungsrecht. Und selbstverständlich müssen wir heute das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine anerkennen. Hier wird es aber schwierig für uns. Man kann natürlich erklären, dass das Selbstverteidigungsrecht keinen Anspruch auf Waffenimport bedeutet und andere Länder nicht verpflichtet sind, Waffenexport zu leisten. Das stimmt. Aber wie anders sollen dann nicht wenige Staaten, die eben nicht hochgerüstet sind, ihr Selbstverteidigungsrecht ausüben? Ich meine, dass wir bei unserer Haltung bleiben sollten, dass Deutschland und deutsche Konzerne nach der schuldhaften Verursachung des schlimmsten Krieges der Menschheitsgeschichte, des Zweiten Weltkrieges mit 50 Millionen Toten, nicht das Recht haben, an Kriegen zu verdienen. Deshalb müssen wir weiterhin scharf kritisieren, dass Deutschland der fünftgrößte Waffenexporteur der Welt ist. Es gibt keinen Krieg, an dem Deutschland nicht mitverdient. Das galt und gilt in Libyen, in Syrien, im Jemen, in Mali. Es gilt auch für die völkerrechtswidrigen Angriffskriege der Türkei gegen die Kurdinnen und Kurden in Syrien und im Irak, zu denen kaum Kritik aus der Nato und von der Bundesregierung zu vernehmen ist. Diese Ungleichbehandlung von völkerrechtswidrigen Kriegen macht die Nato, macht unsere Regierung unglaubwürdig. Hilfe und Mitgefühl muss es für die Ukrainerinnen und Ukrainer, aber ebenso für die Kurdinnen und Kurden geben.
Meine Haltung gegen deutsche Waffenlieferungen bedeuten eben nicht, dass Deutschland der Ukraine nicht helfen sollte. Das Geld, das andere Staaten für Waffenlieferungen ausgeben, könnten wir für humanitäre Hilfe einsetzen. Das impliziert, dass andere Staaten nach meiner Auffassung auch Waffen liefern könnten. Das widerspricht unserer bisherigen Beschlusslage. Wir müssen sie wohl gegenüber Staaten korrigieren, die einen Verteidigungskrieg führen.
Ich nenne dafür folgendes Beispiel. Nehmen wir zwei lateinamerikanische Nachbarstaaten. Eines dieser beiden Länder ist schwach gerüstet, das andere stark. Das schwach gerüstete Land versucht über Diplomatie zu erreichen, dass der andere Staat abrüstet. Auch andere Länder setzen diesbezüglich ihre Diplomatie ein. Dieses Land ist dazu aber nicht bereit. Das Verhältnis beider Länder zueinander wird immer aggressiver und der stark gerüstete Staat überfällt den schwach gerüsteten Staat, der faktisch sein Selbstverteidigungsrecht nicht ausüben kann. Er wendet sich an den Sicherheitsrat der Uno und bittet um einen Beschluss nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen dergestalt, dass bewaffnete Truppen von der Uno hingeschickt werden, um den Aggressor zu bekämpfen.
Hier müssen wir über uns nachdenken. In Münster hat die PDS beschlossen, dass wir uns Beschlüsse nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen nicht einmal ansehen, weil militärische Beschlüsse für uns niemals infrage kommen. Die Linke hat bisher diese Haltung nicht korrigiert. Meines Erachtens können wir sie nicht aufrechterhalten. Wenn wir die Partei des Völkerrechts sind, müssen wir im Unterschied zu anderen das Völkerrecht insgesamt respektieren. Wir können nicht das Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen negieren. Sonst haben wir dasselbe gestörte Verhältnis zum Völkerrecht wie andere Parteien und wie viele Regierungen. Das bedeutete, dass wir auch die genannten Beschlüsse des Sicherheitsrates zu überprüfen haben. Häufig werden wir sie ablehnen. So ist es völlig richtig, dass wir den Beschluss des Sicherheitsrates, bewaffnete Kräfte nach Libyen zu schicken, verurteilten. Jede Einrichtung, die zu Entscheidungen befugt ist, darf dennoch für die Richtung und den Inhalt der Entscheidung kritisiert werden.
Zurück zu meinem Beispiel. Wenn der Sicherheitsrat in einem solchen Falle zugunsten des angegriffenen lateinamerikanischen Staates einen solchen Beschluss fasste, können wir nicht ernsthaft dagegen sein und dem angegriffenen Staat mitteilen, dass wir für dessen bedingungslose Kapitulation seien. Das ist keine Friedenspolitik. Nun setze ich aber das Beispiel fort. Der Sicherheitsrat fasst keinen Beschluss. Der Grund kann darin bestehen, dass es keine Mehrheit gibt, er kann aber auch darin bestehen, dass eine oder mehrere Vetomächte von ihrem Veto Gebrauch machen. Das ist dann der Fall, wenn eine oder mehrere Vetomächte zu dem angreifenden Staat besondere Beziehungen haben. Und es ist vor allem der Fall, wenn eine oder mehrere Vetomächte den Krieg selbst führen. Dann versucht der angegriffene Staat von anderen Ländern Waffen zu erwerben. Ich schrieb bereits, dass Exporte aus Deutschland für mich nicht infrage kommen. Aber können wir unter diesem geschilderten Umstand von anderen Staaten, die eine andere Geschichte haben, die gegen Hitlerdeutschland kämpften, verlangen, keine Waffen an den angegriffenen Staat zu liefern? Ich glaube, dass wir auch hier unsere Haltung korrigieren müssen. Die Ausführungen ändern nichts an der Notwendigkeit der Reform der Uno. Der Süden muss ebenso andere Rechte bekommen wie die besonders vom Klimawandel betroffenen Länder.
Zurück zur Ukraine. Wer heute fordert, dass die Ukraine bedingungslos kapitulieren müsse, agiert nicht friedenspolitisch. Wenn allerdings die Außenministerin erklärt, dass der Krieg erst beendet sei, wenn der letzte russische Soldat das ukrainische Territorium verlassen habe, steht ihr das nicht zu. Wenn es über den Weg der Diplomatie irgendeine Art von Kompromiss und Verständigung zwischen der russischen und der ukrainischen Führung geben sollte, hat auch unsere Regierung, haben wir dies zu respektieren, weil dann endlich die Waffen schweigen. Das bedeutet nicht, dass man den Kompromiss nicht kritisieren darf. Man darf aber niemals von der Ukraine verlangen, bewaffnet weiterzukämpfen, wenn die Führung dieses Landes – möglichst in Übereinstimmung mit der eigenen Bevölkerung – dies nicht mehr will.
Der Krieg der Nato gegen Jugoslawien war völkerrechtswidrig. Niemand beschloss Sanktionen gegen die Nato-Mitgliedsländer. Wer hätte auch schon die Kraft dazu? Der Krieg der USA und anderer Länder gegen den Irak war völkerrechtswidrig. Selbstverständlich wurden gegen die USA und die anderen Länder keine Sanktionen beschlossen. Der Krieg der Türkei gegen Syrien und den Irak, das heißt gegen die autonomen Gebiete der Kurdinnen und Kurden, ist völkerrechtswidrig. Selbstverständlich beschließt niemand Sanktionen gegen die Türkei. Wenn es Menschenrechtsverletzungen in China gibt, werden Sanktionen beschlossen. Bei Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien, in Katar und anderen Ländern ist das nicht der Fall. Aber die Sanktionen gegen China haben nicht dazu geführt, dass es den Uiguren besser geht. Das vorgegebene Ziel wird nie erreicht. Das eigentliche Ziel, die Schwächung Chinas, wird nur bedingt erreicht. Nun aber gibt es immer massivere Sanktionen gegen Russland. Das Ziel soll ja darin bestehen, dass Russland den Krieg beendet. Offensichtlich wird dieses Ziel nicht erreicht.
Ich habe auch nichts gegen Sanktionen gegen die russische Führung oder gegen Oligarchen, aber meine Partei ist zurecht gegen Sanktionen gegen die Bevölkerung. Die Hoffnung, dass sich die Bevölkerung dann gegen Putin stellt, ist falsch. Die Medien in Russland werden eher eine Stimmung gegen uns erzeugen. Außerdem soll man eine Bevölkerung nicht für etwas bestrafen, was sie nicht beschlossen hat. Ich selbst habe versucht, die Bevölkerung in russischer Sprache davon zu überzeugen, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, obwohl dies viel Mut erfordert. Wenn aber diejenigen, die für Sanktionen sind, wissen, dass dadurch der Krieg nicht beendet wird, besteht wohl auch hier vornehmlich die Absicht, Russland dauerhaft zu schwächen. Russland wird sich aber neu orientieren, nicht nur in Richtung Asien. Und natürlich nutzt die Bundesregierung, nutzen insbesondere die Grünen, die Chance, sich vom russischen Erdöl und vom russischen Erdgas zu trennen. Dafür nimmt man selbst das Fracking-Gas aus den USA in Kauf. Ein Ziel, das die USA seit langem schon verfolgen. Aber man geht auch zu Diktaturen und bittet sie um Gas und Öl. Ob solche Abhängigkeiten so viel besser sind, darf man bezweifeln. Bei allem, was geschieht, muss man immer auch an die Gegeninstrumente Russlands denken. Aus der Ukraine und Russland kommt normalerweise ein Drittel der weltweiten Getreideexporte. Wenn die russische Führung nun den Export unterbindet, müssen Millionen Menschen verhungern. Das darf nicht geschehen und hätte mit bedacht werden müssen, wenn man besonnen und verantwortungsvoll Politik machen will. Außerdem brauchen wir Russland für ein Abkommen mit dem Iran, damit verhindert wird, dass der Iran eine Atommacht wird. Russland ist ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Organisation der Vereinten Nationen mit Vetorecht.
Wie andere, glaube auch ich, dass Putin den Beginn seines Endes eingeleitet hat. Und wir aber müssen sehen, dass es auch ein Russland nach Putin gibt. Wir brauchen Vorstellungen, wie wir uns eine sichere und stabile Friedensordnung in Europa vorstellen. Mit Putin wird das nicht mehr gehen, aber nach ihm müsste es hoffentlich wieder möglich sein, eine solche Ordnung zu erstreiten unter Einschluss von Russland. Das würde auch die Sicherheit aller Nachbarländer Russlands erhöhen. Insofern können wir eine andere Vision an den Tag legen als andere. Nur hat Putin ja gerade erreicht, dass die Staaten der EU und die Staaten der Nato in einem Maße zusammengerückt sind, wie man sich das vorher kaum vorstellen konnte. Der französische Präsident Macron hatte die Nato schon als hirntot bezeichnet. Davon kann zurzeit gar keine Rede sein. Wir müssen uns deutlich gegen die Militarisierung unserer Gesellschaft, gegen die militaristische Sprache von Regierungsmitgliedern und aus anderen Parteien stellen. Der Vorwurf an die Bevölkerung, dass sie »kriegsmüde« wäre, muss von uns scharf verurteilt werden. Ich hoffe, dass unsere Bevölkerung kriegsmüde ist und bleibt.
Die Aufrüstungspläne der Bundesregierung und der CDU/CSU sind von uns entschieden zu kritisieren. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine fand statt, obwohl die Nato das Zwanzigfache für Armeen und Rüstungen im Vergleich zu Russland ausgab. Es hat der Ukraine nichts genützt. Und wenn die Nato das Dreißigfache für Armeen und Rüstungen ausgibt wie Russland, nützt es ebenso wenig. Außerdem wird Russland Deutschland nicht überfallen. Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg war es umgekehrt. Aber selbst wenn Russland Deutschland überfiele, müssten die Nato-Partner USA, Großbritannien, Frankreich und viele andere einschreiten und wir hätten den dritten Weltkrieg, für den diese Aufrüstung völlig überflüssig wäre.
Eine neue Friedensordnung für Europa gibt es noch nicht, aber die Nato existiert. Seit Jahrzehnten sind Finnland und Schweden militärisch neutrale Staaten. Sie haben diesbezüglich auch eine bestimmte Politik entwickelt. Leider haben sie nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Vermittlerrolle weitgehend aufgegeben, obwohl sie in dieser Zeit dringend benötigt worden wäre. Beide Staaten wollen nun Mitglieder der Nato werden. Es spricht schon dagegen, dass wir einen Abbau militärisch neutraler Staaten nicht befürworten können. Eine Blockbildung Russland, China, vielleicht noch Indien gegen andere Staaten muss verhindert werden. Die Regierungen Finnlands und Schwedens würden aber erwidern, dass sie dennoch beitreten wollen, damit Russland es nicht wagen kann, sie zu überfallen. Wenn sie Mitglieder der Nato sind, löste ein Angriff den Bündnisfall und eben den dritten Weltkrieg aus, den auch Russland nicht will und sich vor allem auch gar nicht leisten kann. Was sagt die Linke dazu? Wir könnten einwenden, dass wir nicht glauben, dass Russland Finnland oder Schweden oder gar beide Staaten überfällt. Beide Regierungen könnten die Gegenfrage stellen, ob wir denn geglaubt hätten, dass Russland die Ukraine überfällt. Wir müssten wahrheitsgemäß erklären, dass wir das nicht geglaubt haben. Daraufhin würden sie erwidern, wieso sollen wir jetzt glauben, dass das bei uns nicht geschehen kann? Dann könnten wir weiter einwenden, dass viele Nato-Staaten hoffen, Russland militärisch in dem Krieg gegen die Ukraine so zu schwächen, dass es gar nicht mehr in der Lage wäre, weitere Kriege zu führen. Dann erwiderten aber die Regierungen von Finnland und Schweden, dass das zurzeit stimmen mag, aber Russland wieder aufrüsten wird und eines Tages doch wieder in der Lage ist, sie anzugreifen. Und nur, um dies auszuschließen, wollen sie eben Mitglieder der Nato werden. Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Welche sollen wir geben?
Wir dürfen in unserer Kritik an dem Verhalten unserer Regierung und der anderen Parteien, an dem Verhalten der Nato und ihrer Geschichte, an dem Verhalten der USA nicht nachlassen, wenn die Kritik begründet und berechtigt ist. Wir müssen aber auch bestimmte Standpunkte von uns kritisch aufarbeiten, die so keinen Bestand mehr haben. Wir müssen wirklich die Völkerrechtspartei werden, für die das gesamte Völkerrecht immer gilt, wir müssen eine reale und entschiedene Friedenspartei sein. Wir dürfen die Geschichte unseres Landes nie aus dem Auge verlieren, müssen aber begreifen, dass andere Länder eine andere Geschichte haben. Und wir müssen im Unterschied zu anderen Parteien und unserer Regierung, Menschenrechtsverletzungen immer kritisieren, auch wenn sie in Staaten stattfinden, die uns aus irgendeinem Grunde sympathischer sind als andere.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.