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Mehr Klimaschutz, aber sozial gerecht
Verständnis für unterschiedliche Meinungen: so erleben zwei Mitglieder den Klima-Bürger*innenrat
In Lichterfelde gibt es jetzt auf allen Dächern Solaranlagen. Dank »smartem Stromtarif« gehen große Geräte wie Waschmaschinen erst dann an, wenn dort viel Strom produziert wird und dieser besonders günstig ist. Wenn die eigenen Anlagen nicht genug erzeugen, nachts zum Beispiel, wird etwas teurere erneuerbare Energie aus der Region eingespeist. Dieses mögliche Zukunftsszenario wird in einem Video vorgestellt, in einer sogenannten Alltagsgeschichte, in einer digitalen Sitzung des Berliner Klima-Bürger*innenrats zum Thema Energie in der vergangenen Woche. Das Mieterstrommodell, bei dem Strom auf Wohngebäuden erzeugt und an die Mieter*innen im Haus verkauft wird, »ist genau das, was wir brauchen«, sagt Katharina Umpfenbach vom Berliner Ecologic Institute, die als Expertin eingeladen ist.
Zusammen mit Arwen Colell, Mitbegründerin der Genossenschaft Bürgerenergie Berlin und Aufsichtsrätin der landeseignenen Stromnetz Berlin, erklärt sie den knapp 120 Mitgliedern und Gästen des Bürger*innenrats, warum fossile Energieträger so schnell wie möglich aus der Hauptstadt verschwinden müssen. Neben der Solarenergie stehen auch die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Wärmewende auf der Tagesordnung der Sitzung. »Prozentual müssen ärmere Haushalte viel mehr für Energie ausgeben«, sagt Colell. »Das heißt, wir haben hier ein handfestes soziales Gerechtigkeitsthema.«
Christoph Rätsch, eines von 100 zufällig ausgelosten Mitgliedern des Bürger*innenrates, sagt im Anschluss zu »nd«, der Vortrag sei »sehr informativ« gewesen. Sein Elternhaus in Spremberg in der Lausitz werde bereits mit einer Wärmepumpe beheizt, daher wisse er aus Erfahrung, wie viel Strom das frisst. Durch die Kombination mit Photovoltaikanlagen sehe er aber »viel Potenzial«. Dem 33-jährigen gelernten Landschaftsgärtner, der seit 2016 in Berlin lebt und Gartenbau und Sport auf Berufsschullehramt studiert, ist das Thema Klima wichtig. Aus der Lausitz kennt er sowohl das Problem des Wassermangels als auch »die Ängste und Sorgen der Leute dort« hinsichtlich der Energiewende. Er habe jedoch Zweifel, »ob wir noch viel verändern können«. Skeptisch ist er auch, »wie weit sich unsere Vorschläge umsetzen lassen – die Politik hat gewisse Grenzen«. Helena Grosser, ebenfalls Mitglied im Bürger*innenrat, ist da optimistischer. »Der Senat ist sehr interessiert und wird schon einige Sachen umsetzen müssen, da gibt es viel Druck«, sagt die 23-jährige Berlinerin, die an der Humboldt-Universität Skandinavistik studiert, zu »nd«.
In insgesamt neun, überwiegend digitalen Sitzungen zwischen April und Juni erarbeitet der Klima-Bürger*innenrat Handlungsempfehlungen für die Politik, um die Berliner Klimaschutzziele in den Bereichen Mobilität, Gebäude und Energie zu erreichen. Nach der erfolgreichen Volksinitiative des Bündnisses Klimaneustart Berlin hatte das Abgeordnetenhaus im April 2021 die Einberufung des Bürger*innenrats beschlossen. Dessen Empfehlungen sollen in die Weiterentwicklung des Berliner Energie- und Klimaschutzprogramms (BEK) 2030 einfließen, sind für die Politik jedoch nicht bindend. Für die Umsetzung verantwortlich sind das Nexus-Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung in Berlin, das Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und der Verein Klima-Mitbestimmung Jetzt.
Ziel der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz ist es, zu erfahren, welche Maßnahmen die Berliner*innen bereit sind für den Klimaschutz mitzutragen und wie diese sozial gerecht ausgestaltet werden können. Zu diesem Zweck wurden 2800 Personen ab 16 Jahren aus dem Berliner Melderegister ausgelost und für die Teilnahme angefragt. Anhand der positiven Rückmeldungen wurden 100 Menschen per Zufallsalgorithmus so ausgewählt, dass sie nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Migrationserfahrung und Bezirk möglichst genau die Berliner Gesellschaft widerspiegeln.
Christoph Rätsch hält das für gelungen. Er habe im Bürger*innenrat bereits mit Menschen jedes Alters und mit »vielen verschiedenen Ansichten von esoterisch bis konservativ« zu tun gehabt. Helena Grosser dagegen hat das Gefühl, es hätten sich – verglichen mit dem Interesse in der Gesamtgesellschaft – prozentual mehr Menschen bereit erklärt mitzumachen, denen das Thema Klima am Herzen liegt. Viele Klimagerechtigkeitsgruppen wie Klimaneustart Berlin und Extinction Rebellion setzen große Hoffnungen in Bürger*innenräte, weil sich in der Vergangenheit gezeigt habe, dass die Zivilgesellschaft bereit sei, viel mehr Klimaschutzmaßnahmen mitzutragen als die Politik, wie Jessamine Davis von Klimaneustart vor Kurzem gegenüber »nd« erklärte.
Auch Grosser sagt, sie würde auch mehr für Energie bezahlen, obwohl sie nie viel Geld hatte. Dabei müsse es jedoch gerecht zugehen. »Reichere Menschen sollen mehr zahlen, weil sie dem Klima mehr schaden. Und der Normalbürger muss es sich leisten können, mit dem Bus zu fahren«, findet Grosser. Sie sei erstaunt, wie viele andere Bürger*innenratsmitglieder das genauso sehen. Andererseits habe sie auch schon Konflikte mit Menschen gehabt, »die einen luxuriösen Lebensstandard verteidigen«. »Das kann sehr anstrengend sein«, erzählt sie. Wenn es nach ihr ginge, würde man sich in Berlin zum Beispiel möglichst nur noch mit dem Fahrrad und den öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegen. Auch Christoph Rätsch nennt sich einen »Öffi-Menschen«, aber er könne verstehen, dass andere auf das Auto angewiesen sind. Grosser sagt, sie wisse, dass einige ihrer Ansichten »zu radikal sind«. So würde sie sich zusätzlich zu den vorgegebenen Themenbereichen eine Diskussion über klimaschädliche Produkte wie Fleisch oder Südfrüchte wünschen. »Ich werde versuchen, das einzubringen.«
Beide sind überrascht, wie sachlich, freundlich und verständnisvoll die Mitglieder des Bürger*innenrates trotz unterschiedlicher Meinungen miteinander diskutieren und wie viel man voneinander lernen könne. Nach jedem inhaltlichen Vortrag der Expert*innen beratschlagen die Teilnehmer*innen in etwa zehnköpfigen moderierten Kleingruppen, welche Empfehlungen sie daraus ableiten. Die Moderatorin einer der Gruppen, die sich nach dem Input zur Energie mit klimaneutraler Wärmeversorgung beschäftigt, fragt immer wieder nach, ob sie die jeweilige Person richtig verstanden hat, und wiederholt das Gesagte, bevor es notiert wird. »Bitte korrigieren Sie mich, ich will nichts mitschreiben, was Ihnen nicht passt!«, betont sie. Wenn sich zwischendurch Fragen ergeben, werden Faktenchecker*innen dazugeholt. »Die machen großartige Arbeit, die Betreuung ist perfekt, alles sehr gut organisiert«, sagt Christoph Rätsch.
Am Ende jeder Sitzung werden drei Vorschläge jeder Gruppe ausgewählt, zu denen anschließend ein Stimmungsbild aller 100 Mitglieder erstellt wird. Im nächsten Schritt formuliert ein Redaktionsteam aus wenigen Freiwilligen daraus Vorschläge für konkrete Empfehlungen. Welche das schlussendlich sind, darf noch nicht bekannt gegeben werden. In einer Woche wird der Klima-Bürger*innenrat noch einmal über alle Empfehlungen abstimmen und diese am 30. Juni der Senatsumweltverwaltung übergeben. »Wir werden die Ergebnisse sehr ernst nehmen, denn alles andere ist Verarschung«, hatte Umwelt- und Klimaschutzsenatorin Bettina Jarasch (Grüne) in der Auftaktsitzung Ende April gesagt. Versprechen könne sie aber nicht, dass alle Empfehlungen übernommen werden. Wenn Senat und Abgeordnetenhaus Vorschläge ablehnen, »würde ich schon eine vernünftige Erklärung fordern«, sagt dazu Helena Grosser.
Sie und Christoph Rätsch haben viel Zeit in den Klima-Bürger*innenrat gesteckt. Beide müssen die in der Regel dreieinhalbstündigen Sitzungen jede Woche mit dem Studium und einem Nebenjob unter einen Hut bringen. »Gestern musste ich mich schon ganz schön motivieren«, gibt Grosser zu. Als sie Anfang des Jahres zur Teilnahme eingeladen wurde, habe sie sich aber erst einmal »total gefreut«. Schon als Jugendliche habe sie sich viel mit dem Klima beschäftigt, sie ist Mitglied im Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) und »wollte immer mehr tun, aber habe den Hintern nicht hochbekommen. So kam das Engagement zu mir«, erzählt die junge Studentin.
Christoph Rätsch sei anfangs skeptisch gewesen, als er den Brief bekommen habe. Dann entschied er sich trotzdem zur Teilnahme, weil ihm die Möglichkeit, »aktiv mitzuwirken«, wichtig gewesen sei. »Außerdem war ich neugierig.« Bereut hat er es nicht. Die Arbeit mache Spaß, und er habe interessante Menschen kennengelernt. Unabhängig davon, ob der Strom schon bald vom Solardach kommt oder die Heizung per Wärmepumpe betrieben wird: »Ich bin total glücklich, dass der Bürger*innenrat ins Leben gerufen wurde«, sagt Helena Grosser.
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