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Die optische Täuschung einer roten Gefahr

Die neue Linksallianz Nupes fällt hinter frühere radikal-sozialdemokratische Programme zurück

  • Marius Bickhardt
  • Lesedauer: 6 Min.
Von seinen Gegnern als "gallischer Chavez" verschrien: Jean-Luc Mélenchon führt die neue Linksallianz Nupes an.
Von seinen Gegnern als "gallischer Chavez" verschrien: Jean-Luc Mélenchon führt die neue Linksallianz Nupes an.

Als am 14. April in Frankreich die vorläufigen Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahl verkündet werden, ist die Stimmung in der Pariser Szenekneipe des linksreformistischen Milieus Lieu Dit getrübt: Jean-Luc Mélenchon, der charismatische Führer der Bewegung La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich), ist mit seinem Wahlprogramm der Union populaire daran gescheitert, in die Stichwahl einzuziehen. Am Ende lag er nur 420 000 Stimmen hinter Marine Le Pen. Die Kandidat*innen anderer etablierter Parteien – von den Grünen über die rechtskonservativen Républicains bis zu den Sozialisten – erhielten weniger als fünf Prozent der Stimmen.

Die Wut der urbanen Mittelklasse richtete sich an dem Wahlabend vor allem auf den Kandidaten der Kommunistischen Partei (PCF), Fabien Roussel, der nur 2,28 Prozent der Stimmen erhielt. Im Gegensatz zur Wahl im Jahr 2017 hatte die Partei Mélenchon nicht unterstützt und wird daher von seinen Anhänger*innen mitverantwortlich für die Niederlage gemacht. Das dürftige Abschneiden Roussels zeigt auch, dass seine Strategie gescheitert ist. Er hatte – ähnlich wie Sahra Wagenknecht in Deutschland – eine linke Aneignung von Themen wie Immigration und Sicherheit versucht, die traditionell zu einer reaktionären Agenda gehören. So lehnte er im Namen von Klassenpolitik den Kampf gegen Islamophobie ab und propagierte eine kulturalistisch aufgeladene Verteidigung von französischem Wein, Fleisch und Käse für die sogenannten kleinen Leute.

Aus der Tatsache, dass es trotz aller Zugewinne Mélenchons kein linker Kandidat in die Stichwahl schaffte, zog die Linke in Frankreich zumindest eine wichtige Konsequenz: Sie schloss sich zusammen. Unter Federführung Mélenchons riefen die Fraktionen von Grünen, Sozialisten, Kommunisten und Mélenchonisten die linke Wahlallianz Nupes (Nouvelle Union populaire sociale et écologique – Neue ökologische und soziale Volksunion) ins Leben. Aktuellen Umfragen zufolge liegt dieses derzeit nur knapp hinter dem Bündnis Ensemble von Macron – und schon malt die bürgerliche Zeitschrift »Le Point« die »rote Gefahr« an die Wand. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire spricht gar von einem »gallischen Chavez«, welcher im Falle der absoluten Mehrheit der Nupes im Parlament – und der damit erzwungenen Ernennung Mélenchons zum Ministerpräsidenten – die Marktwirtschaft abschaffen und den Sozialismus einführen werde.

Doch sowohl die Panik der bürgerlichen Presse als auch die linke Hoffnung in die Nupes sind Ausdruck einer optischen Täuschung, die dem allgemeinen Rechtsruck des politischen Feldes des autoritären Neoliberalismus geschuldet ist. Ein nüchterner Blick ohne Lagerdenken auf das Programm der Allianz und den Werdegang der Gallionsfigur Mélenchon lässt die kommunistischen Gespenster schnell verblassen.

Einerseits erscheint die Nupes als Ort der Neuformierung einer delegitimierten institutionellen Regierungslinken von Grünen und Sozialisten, die nach dem Überlaufen ihrer Wähler*innenbasis links zu Mélenchon und rechts zu Macron das sinkende Schiff retten wollen. Andererseits ist die Hegemonie Mélenchons auch Ausdruck eines spät gewonnen Flügelkampfes innerhalb der Parti Socialiste (PS), in der er von 1977 bis 2008 Posten bekleidete. Den Ökonomen Bruno Amable und Stefano Palombarini zufolge besteht die Besonderheit des französischen Wegs zum Neoliberalismus darin, dass die ab 1981 regierende Sozialdemokratie in Folge von Krise, Kapitalflucht und internen Machtkämpfen selbst neoliberale Restrukturierungen des Kapitalismus in Form von Deregulierungen, Liberalisierungen und Privatisierungen durchsetzte. Seitdem verfolgt sie eine kapitalfreundliche und pro-europäische Trickle-down-Standortpolitik. Dass es sich dabei nur um einen Pyrrhussieg der liberalen Fraktion der »Modernisierer« handelte, zeigt die weitere Entwicklung der Partei. Auf Dauer führte der marktkonforme Kurswechsel zu einer Unterhöhlung der politischen Legitimität in der von Austerität und verschärfter Ausbeutung betroffenen Klasse der Lohnabhängigen.

Nach dem gescheiterten Versuch der PS, diese parteiinterne Entwicklung auf dem Kongress in Reims 2008 rückgängig zu machen, gründete Jean-Luc Mélenchon im Folgejahr nach deutschem Vorbild die Parti de Gauche (Linkspartei). Unter dem Einfluss der neuen spanischen Linkspartei Podemos und der Theorie des Linkspopulismus Chantal Mouffes folgte 2016 die Sammelbewegung La France Insoumise.

Doch sowohl Mélenchons Bewegung als auch die neue Nupes-Allianz bleiben weit hinter dem radikal-sozialdemokratischen Programm der von Francois Mitterrand geleiteten PS von 1981 zurück. Und dies, obwohl sich das Land nach wie vor in einer Repräsentations- und Legitimitätskrise des politischen Zweiparteiensystems befindet, die sich seit der Bewegung gegen das Arbeitsgesetz »Loi Travail« von 2016 und im Zuge der Kämpfe der Gelbwesten ab 2018 verschärft hat. Diese Krise drückt sich etwa in der vor allem unter jungen Wähler*innen und Arbeiter*innen historischen Wahlenthaltung sowie in der populistischen Links-Rechts-Polarisierung gegen das macronistische Establishment aus.

Und das, obwohl Macron selbst 2017 noch mit dem pseudo-disruptiven Wahlspruch der »Revolution« gegen das verknöcherte System der Volksparteien angetreten war. Seine Kontrahent*innen Le Pen und Mélenchon konnten indessen ihre Wähler*innenbasis erweitern. Erstere kaschiert mittels einer kaufkraftorientierten Rhetorik ihr neoliberales Programm und genießt nach wie vor den Ruf einer Partei der kleinen Leute, was auch wahlpolitisch Früchte trägt. Unter den Arbeiter*innnen und kleinen Angestellten, die sich an der vergangenen Präsidentschaftswahl beteiligten, stimmten jeweils 32 und 34 Prozent für Le Pen – und lediglich 22 beziehungsweise 24 Prozent für Mélenchon. Letzterer hat durch die konsequente Verurteilung von Polizeigewalt und Islamophobie insbesondere die zuvor nicht-wählende muslimische Bevölkerung mobilisieren können, deren Stimmanteil für ihn im Vergleich zu 2017 von 37 auf 69 Prozent gestiegen ist.

Eine absolute Mehrheit der Nupes im Parlament ist dennoch unwahrscheinlich. Ohnehin wäreeine solche nicht viel mehr als Sand im Getriebe des technokratischen Durchregierens qua Verordnungen und Dekreten. Schließlich richtet das Linksbündnis seinen Fokus auf politische Verfassungsreformen und die »Reparlamentisierung der Republik«, während es sich zur selben Zeit gleichgültig gegenüber kapitalistischen Eigentums- und Klassenverhältnissen zeigt. Dies lässt sich als Ausdruck eines ideologischen Politikfetischs verstehen, dem der Linkspopulismus durch seine Vorstellung von der Autonomie des Politischen aufsitzt. Im Gegensatz zu Friedrich Engels betrachtet dieser den Staat längst nicht mehr als »ideellen Gesamtkapitalisten«, dessen materielle Existenzgrundlage im Falle von Investitionsstreik und Kapitalflucht verlustig ginge, sondern als eine von den Imperativen der Kapitalakkumulation unabhängigen Sphäre des Gemeinwohlinteresses.

Wenngleich Jean-Luc Mélenchon die Symptome neoliberaler Regierungsformen lindern könnte, lässt er doch ihre im Klassenverhältnis gründenden strukturellen Ursachen außer Acht. Dabei hat das vergangene Jahrhundert ausreichend Beispiele parat, die zeigen, dass die materiellen Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der Klasse der Lohnabhängigen nicht, wie schon Karl Marx schrieb, »Produkte parlamentarischer Hirnweberei« sind, sondern stets das »Ergebnis langwieriger Klassenkämpfe«. Was die materielle Lage der Proletarisierten angeht, sind darum selbst bei einem Sieg von Nupes allenfalls kleinere Verbesserungen zu erwarten: die Mindestlohnerhöhung von 1300 auf 1500 Euro netto etwa, die Herabsetzung des Renteneintrittsalters oder eine Preisdeckelung für grundlegende Nahrungsmittel.

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