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Suppenküche und Perspektiven
Phnom Penhs größtes Kinderhilfsprojekt ist nach der Nothilfe während der Corona-Pandemie wieder im Aufbruch
Gegen 13 Uhr herrscht auf dem Gelände Mittagsruhe. Die Kleinsten aus dem Kindergarten halten unter Aufsicht ein Schläfchen, auch in den Ausbildungsabteilungen hat sich mancher wie im Raum der Friseure an Ort und Stelle zu einem Nickerchen niedergelassen. Zwei halbwüchsige Mädchen liegen dort zusammengekuschelt in den breiten Sitzen. Lediglich im Freizeitbereich hat sich eine Gruppe älterer Kinder vor dem Fernseher versammelt. Dafür herrscht in der Suppenküche Hochbetrieb. Sie ist ein in der Coronazeit entstandenes zusätzliches Hilfsprojekt, um Bedürftige in der Innenstadt zu unterstützen. Allein an diesem Tag werden nahezu 600 Portionen zubereitet, die nun verpackt werden.
Eine Köchin rührt noch in einem der großen Töpfe, mehrere andere sind mit dem Umfüllen in die Boxen beschäftigt. Schon in Kürze sollen sie mittels Tuk-Tuks, den auch in der kambodschanischen Hauptstadt gängigen Rikschas meist indischer Bauart, an verschiedene Stellen ausgeliefert werden. Reis, Gemüse und Suppe gegen drohenden Hunger. »Die Zahlen schwanken von 500 bis zum Teil 800 Portionen«, erklärt Sebastien Marot. Viele sind nach wie vor auf diese Unterstützung angewiesen, betont er. »Zwei Mal am Tag kommen die Fahrzeuge und nehmen die Päckchen mit, einmal morgens und einmal mittags gegen 14.30 Uhr«, erklären Yum Kunthea und ihr Kollege Vicet Chea, die beiden jungen Leute an der Verladestelle.
Eigentlich ist das F3-Gelände – das Kürzel steht für die Friends Futures Factory – wie ein Bienenstock. Manches geht zwar seit März langsam wieder los, an anderen Stellen herrscht aber noch Stillstand. Die beruflichen Ausbildungsgänge sind in der Zahl der Teilnehmenden noch beschränkt, vor der Pandemie waren die Kurse größer. Ausgebildet werden angehende Friseur*innen und Beschäftigte in Schönheitssalons ebenso wie Mechaniker*innen und Elektriker*innen, so wie der 17-jährige Ha Sophan. Seit Mitte Februar sei er dabei, erzählt der Jugendliche. Etwa vier Monate dauert der Basiskurs bei den Elektriker*innen, zwei Monate Spezialisierung kommen hinzu, erläutert sein Ausbilder. Wobei das Richtwerte sind: »Jede und jeder wird bei uns nach einem individuellen Plan betreut«, stellt Koordinator Marot klar. Gerade das ist das Erfolgsrezept der Organisation bei ihren Projekten – Hilfe wird ganz nach den persönlichen Stärken und Erfordernissen zugeschnitten.
Für die älteren Jugendlichen geht es in den Kursen darum, das Rüstzeug für ihre berufliche Zukunft zu bekommen. Aber auch Kinder mit Schuluniformen laufen zu dieser Zeit vereinzelt über den Hof. »Wir bieten verstärkt Nachhilfe an«, sagt Marot. Es gebe nämlich mehr Kinder denn je, die zusätzlichen Förderbedarf haben, um Schritt halten zu können. Am 10. Januar haben die Schulen landesweit wieder geöffnet, seither läuft der Unterricht zwar halbwegs normal. Doch die Lernrückstände durch die langen Unterbrechungen 2020 und 2021 sind enorm. Effektiver Onlineunterricht ist in Kambodscha zur Hochzeit der Pandemie kaum möglich gewesen, viele Stunden sind zwischenzeitlich ganz ausgefallen. Ohne diese Nachhilfe im Projekt würden gerade Kinder aus den ärmeren Familien schnell den Anschluss verlieren. Dabei kann gerade solide Bildung für sie ein Start sein, um perspektivisch der Armut zu entkommen.
In einem der Räume, die sonst ebenfalls für Kurse genutzt werden, sitzt nun das sogenannte Drop-in-Center, eine Sozialberatung. Die Beschäftigten in diesem Bereich halten zwar eine 24-Stunden-Hotline für Notfälle am Telefon bereit, doch es gibt auch genügend Bedürftige aus dem Stadtzentrum Phnom Penhs, die mit ihren Problemen ganz direkt vorbeischauen. »Hier ist immer etwas los«, sagt die Mitarbeiterin, kurz bevor das Telefon erneut klingelt. Neben den Ansprechpartner*innen in dem provisorischen Büro gibt es noch mobile Sozialarbeiter*innen, die in den Vierteln draußen unterwegs sind. »Das ist hier nur eines von fünf solcher Zentren, die wir in ganz Phnom Penh unterhalten«, sagt Marot.
Mith Samlanh ist eine Institution in der Stadt, besteht seit fast drei Jahrzehnten und hat inzwischen vielen Tausend Kindern und Jugendlichen geholfen. Gegründet wurde die Nichtregierungsorganisation im August 1994, in einer Zeit, da die UN-Friedensmission aus Kambodscha gerade wieder abgezogen war – sie sollte 1992/93, nach Beendigung des niedrigschwelligen Bürgerkriegs zwischen der von Vietnam gestützten Regierung sowie dem Bündnis aus Roten Khmer und bürgerlichen Widerstandsgruppen den Neuanfang im Land überwachen. Doch die gerade entschwundenen Blauhelmtruppen hinterließen auch neue Probleme. So war durch ihre Präsenz die Zahl der Prostituierten angewachsen, denen nun Kunden fehlten. Ebenso war die Zahl der Straßenkinder in der Hauptstadt binnen kurzer Zeit stark angestiegen, bedingt durch die ökonomischen Verwerfungen in den frühen 90er Jahren mit dem politischen und wirtschaftlichen Wandel. Die bis heute regierende Volkspartei strich damals das »revolutionär« aus ihrem Namen und wandte sich dem kapitalistischen Mainstream zu.
Zwar ist das berufliche Bildungssystem in Kambodscha seit jenen Tagen formalisiert. Doch unmittelbar vor der Pandemie gab es gerade einmal 38 staatliche Institutionen für die Ausbildung, und die meisten der 44 in privater Hand sind so teuer, dass sich Kinder aus armen Familien deren Kursangebote nicht leisten können. Mith Samlanh, was auf Khmer Freunde bedeutet, ist für sie somit fast die einzige Chance zu einer soliden Berufsausbildung, die tatsächlich Zukunftsperspektiven eröffnet, statt sich nur von einem schlecht bezahlten Hilfsjob zum nächsten zu hangeln. Unter anderem im »Friends Restaurant«, das auch bei Tourist*innen beliebt ist, lernten schon viele angehende Köche und Servicekräfte, die später in größeren Betrieben eine Anstellung fanden. Bis im März 2020 die Viruswelle Kambodscha erfasste. »Auch wir mussten temporär unsere Einrichtungen komplett schließen, unsere Restaurants, Shops, Werkstätten sowie übrigen Ausbildungs- und Arbeitsstätten«, erzählt Marot. Restaurant und Lehrcafé sind noch immer zu. »Bitter war außerdem, dass wir auf einen Schlag von zuvor 60 Prozent Eigenfinanzierung wieder auf 100 Prozent finanzielle Abhängigkeit zurückfielen. Zwei, drei Monate über herrschte sozusagen Notstand. Ab Mai 2020 haben wir dann losgelegt mit alternativen Formaten. Es war ständige Innovation, was uns da abverlangt wurde«, blickt er auf die massiven Einschnitte zurück.
Marot, der aus Belgien stammt, lebt inzwischen seit Jahrzehnten in Kambodscha. Es sei ein Glücksfall gewesen, erzählt er, dass Mith Samlanh als Verein von Phnom Penh aus in mehreren Ländern Südostasiens aktiv sei. So könnten sie Teil vieler Netzwerke sein und seien im Umgang mit schwierigen Situationen mittlerweile erprobt. Aber neu war der Corona-Umstand für sie trotzdem. Doch mit einigem Einfallsreichtum wurden alternative Hilfsangebote angeschoben, so gut dies eben möglich war. »Wir hatten in unserem Netzwerk rund 6000 lokale Aktive in der ganzen Region, die sich eingebracht haben. Aber Partnerinnen und Partner zu koordinieren, war nicht einfach, ich konnte ja lange nirgendwohin in die anderen Länder reisen«, sagt Marot. Und schon in Kambodscha selbst, wo nicht nur das Gesundheitssystem mit der Lage anfangs völlig überfordert war, gab es genug Probleme. Die Anspannung und der enorme Stress sei auch bei den Mitarbeitenden im Team deutlich zu spüren gewesen. Dennoch konnten Nothilfeangebote wie die Suppenküche etabliert werden. Schließlich standen binnen kurzer Zeit viele Menschen buchstäblich vor dem Nichts, hatten so aber wenigsten ein oder zwei gesicherte Mahlzeiten am Tag.
Schon der Einbruch beim Tourismus hat zuhauf Jobs gekostet. Das konnte man in Phnom Penh oder Siem Reap ebenso sehen wie im thailändischen Bangkok. Viele kleine Geschäfte im Umfeld mussten dichtmachen, auch der Bausektor war betroffen. Das war ein Dominoeffekt. Und da viele Beschäftigte nur für Tagelöhne arbeiten oder einem Mini-Business nachgehen, haben die in solch einer Situation keine Reserven, von denen sie zehren können, keinerlei soziales Netz. »Job weg bedeutet, dass die Familie komplett ohne Einkommen dasteht«, sagt Marot. »Und ohne Schulen, die lange Zeit geschlossen waren, sind zudem die Bildungschancen der Kinder massiv betroffen.« Derzeit sei es eine zusätzliche Herausforderung, viele Kinder zur Bildung zurückzubringen, die zwischenzeitlich zu arbeiten begonnen hatten, damit sie zum Familieneinkommen beitragen können.
Auf den ersten Blick scheint sich das Leben in Phnom Penh mittlerweile weitgehend normalisiert zu haben. Restaurants haben wieder geöffnet, die Zahl der ausländischen Tourist*innen steigt, wenngleich das Niveau von vor der Pandemie noch längst nicht erreicht ist. Doch wer genauer hinschaut, erkennt schnell die tiefgreifenden Verwerfungen, die das Coronavirus in den vergangenen zwei Jahren in dem Königreich verursacht hat.
Zumindest ein bisschen Leben herrscht wieder in den vorderen Räumen des F3-Zentrums. Dort gibt es die Maniküre und Pediküre sowie Friseurdienstleistungen für die Öffentlichkeit – sowie ein Hilfezentrum, das junge Leute beim Start in die Selbstständigkeit unterstützt. Das Team bringt viele Jahre Erfahrung und Kreativität für ganz individuelle Lösungen mit. Nach den Kursen im Arbeitsleben Fuß zu fassen, war noch nie einfach, aber unter den Folgen der Pandemie ist das für die Jugendlichen jetzt noch schwieriger geworden.
Im Hof stehen zwei etwas vom Zahn der Zeit angenagte Trabis, die mal am Ende einer Tour von Ungarn nach Südostasien an dieser Stelle gestrandet sind. »Die wollen wir jetzt aufarbeiten«, meint Marot. »Sie sollen sogar elektrisch werden.« Da haben vor allem die angehenden Mechaniker gleich noch eine besondere Aufgabe. An Herausforderungen fehlt es auf dem F3-Gelände sichtlich nicht.
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