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Der vorläufig gekittete Himmel
Ein Gespräch mit der Germanistin Birgit Bockschweiger über den Arbeitsprozess der Schriftstellerin, Sozialistin und Patriarchatskritikerin Christa Wolf
Liebe Birgit Bockschweiger, wie ist Ihr Interesse für Christa Wolf ursprünglich entstanden?
Birgit Bockschweiger, geboren 1978, hat nach dem Realschulabschluss mehrere Jahre im kaufmännischen Bereich gearbeitet. Nach dem Studium an der Universität Regensburg promovierte sie und arbeitete in der Lehre (Lehrstuhl Neuere deutsche Literatur I). Seit 2020 ist sie dort Referentin für Antidiskriminierung & Diversity.
In den frühen 2000er Jahren habe ich auf Empfehlung einer Freundin Christa Wolfs Buch »Medea: Stimmen« gelesen und fand es faszinierend, wie stark hier mein Mitfühlen aufgerufen wurde und was für ein Identifikationspotenzial gegenüber den Figuren entstand. Das lag für mich an dieser sehr besonderen, reflektierenden Schreibweise von Christa Wolf. Ich selbst habe damals noch im kaufmännischen Bereich gearbeitet und bin erst später an die Uni gegangen, aber Christa Wolf hat mich seit dieser ersten Lektüreerfahrung auch im wissenschaftlichen Bereich nicht mehr verlassen.
Ihr jüngst erschienenes Buch heißt »Oppositionen im Dialog: Schreibprozess und poetologisches Konzept«. Der Titel ist für Leute, die nicht aus der Literaturwissenschaft kommen, eventuell erklärungsbedürftig. Was ist denn ein poetologisches Konzept?
Ein poetologisches Konzept ist die Art, wie man schreiben will. Autorinnen und Autoren haben ja den Anspruch, etwas zu vermitteln, und das poetologische Konzept ist gewissermaßen das Rezept, das sich Autoren oder Autorinnen zurechtlegen, um ihre Ansprüche an Inhaltsvermittlung umsetzen zu können. Man könnte auch von einer begründeten Schreibstrategie sprechen. Diese kann auch Recherchearbeiten beinhalten – so wie im Fall von Christa Wolf, die ganz viel recherchiert und Wissensbestände aufgearbeitet hat.
Christa Wolf hat immer gesellschaftlich relevante Themen ausgewählt und dann mehr oder weniger die gegensätzlichen Haltungen dazu in einen Austausch treten lassen, was häufig zu der Erkenntnis führt, dass es kein Richtig oder Falsch gibt. Dass wir es eigentlich überall mit Menschen in Kommunikationssituationen zu tun haben, die mit Eindeutigkeiten gar nicht zurechtkommen – die es auch nicht gibt.
Welche Eindeutigkeiten meinen Sie?
Zum Beispiel schien es in Hinblick auf die beiden unterschiedlichen Staatssysteme Sozialismus und Kapitalismus so, als hätten die jeweils darin lebenden Menschen überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Christa Wolf wollte das sozusagen perspektivisch herunterbrechen und von den intimen Beziehungen heraus ins Große denken. Dabei stellt sich dann heraus, dass es überall Menschen gibt mit individuellen Bedürfnissen und dieses »Wir-sind-so-anders-als-ihr« letztlich nicht zutrifft.
Und welche Bedürfnisse wären das, die alle Menschen teilen?
Der Wunsch nach Freiheit, der Wunsch nach Selbstverwirklichung, sich in der eigenen Familie und unter Freunden sicher zu fühlen.
Da würde ich mitgehen, dass es menschliche Bedürfnisse gibt, die einerseits geteilt werden und die andererseits auch im Sozialismus nicht befriedigt worden sind. Trotzdem hat sich Christa Wolf, soweit ich weiß, als Sozialistin verstanden, also das System Sozialismus dem Kapitalismus eindeutig vorgezogen. Und daraus ergibt sich ja eine weitere Perspektive als die auf den einzelnen Menschen.
Absolut, ja.
Aber das ist dann wiederum sehr eindeutig, oder?
Christa Wolf hat stark wirklichkeitsbezogen gearbeitet, ihr war der Realitätsbezug sehr wichtig. Sie hatte den Anspruch, aus ihrer Ich-Position heraus wahrhaftig zu schreiben und hat dafür den Begriff der »subjektiven Authentizität« geprägt. Und Wolf war absolut für eine sozialistische, basisdemokratische Gesellschaft, hat auch in den ersten Jahrzehnten die DDR als die überlegene Systemalternative etwa hinsichtlich der Aufarbeitung von faschistischen Strukturen verstanden. Letztlich wurde ihr aber mit der Entwicklung der DDR und der zunehmenden Unfreiheit klar, dass die Umsetzung des Sozialismus weder in der Sowjetunion noch in der DDR das bedeuten konnte, was in ihrem Herzen der Sozialismus war, jetzt mal ein bisschen pathetisch formuliert.
In diesem Zusammenhang steht auch das literaturtheoretische Dogma des Sozialistischen Realismus, das in der DDR und der Sowjetunion durchgesetzt war und immer wieder an Wolf als Autorin angelegt wurde. Darin wiederholen sich die Problematiken der realsozialistischen Gesellschaft ja eigentlich noch einmal.
Absolut. Der Sozialistische Realismus hatte drei Kategorien, die erfüllt werden mussten: Die Wirklichkeit soll als Totalität abgebildet werden, als ein großes Ganzes, dessen systemische Mechanismen sichtbar werden. Dann hatte die Autorin eine sogenannte normative Objektivität abzubilden, die empirisch nachprüfbar ist. Objektivität steht ja eigentlich für Wertungsfreiheit, aber das Wörtchen »normativ« verlangte dann noch die Parteilichkeit, also das Schreiben für den Sozialismus. Die dritte Kategorie war ein aktiver, positiver Held.
Christa Wolf hat dann irgendwann gemerkt: Wenn ich versuche, die Realität, also mein wirkliches Erleben, abzubilden, dann fällt es mir furchtbar schwer, aktive, wohlgesonnene, tätig-produktive Menschen darzustellen, ohne zeigen zu dürfen, dass da ganz viele Selbstzweifel und andere Schwierigkeiten vorhanden sind. So kam Wolf in die Situation, einen eigenen Wirklichkeitsbegriff finden zu müssen. Und entsprechend ist Wirklichkeit und Utopie eine der Oppositionen, die ich in meiner Arbeit betrachte und herauszufinden versuche, wie sich Wolfs Haltung dazu entwickelt, was wirklichkeitsgetreues Schreiben für sie bedeutet.
Ich finde die Kritik am Sozialistischen Realismus und an der gesamten marxistisch-leninistischen Weltanschauung, wie sie in der DDR vertreten wurde, unverzichtbar. Aber macht Christa Wolf tatsächlich einen Gegenentwurf zur Wirklichkeit der DDR oder versucht sie vielmehr, die Wirklichkeit der DDR überhaupt erst korrekt zu erfassen? Als Beispiel fällt mir dazu das Geschlechterverhältnis ein: Hier hat Wolf ja nicht die Position vertreten, dass keine eindeutigen Aussagen getroffen werden können, sondern eine klare Kritik am Patriarchat formuliert.
Zunächst einmal: Ich würde auch nicht sagen, dass Christa Wolf jemals zu der Annahme gekommen ist, realitätsgetreues Schreiben sei nicht sinnvoll. Aber sie hat eben versucht, produktiv-authentisch zu bleiben, ohne zu folgsam zu sein und wollte die literarischen Dogmen des Marxismus-Leninismus hinterfragen – aus ihrer eigenen Position heraus und eben auch im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen.
Bezüglich der Rollen Mann/Frau – auch eine dieser vermeintlichen Oppositionen – hat Wolf herausgearbeitet, dass es viele Menschen gibt, die diesen Geschlechterstereotypen nicht eindeutig entsprechen, und wie sehr auf diesen Menschen der gesellschaftliche Druck zur Entsprechung lastet. Und dass der natürliche Kern, der in diesem Ideal vermeintlich steckt, eben ein Konstrukt ist. Wenn man ganz genau hinschaut und das auch für sich persönlich alles durchdenkt, dann muss man sich eingestehen, dass diese idealen Geschlechterrollen letztlich eigentlich niemand erfüllen kann. Aufzuzeigen, wie wichtig diese Erkenntnis auch für die DDR-Gesellschaft ist, dass auch dort mit diesen Dingen offener umzugehen ist, war eines von Christa Wolfs großen Anliegen .
Zugleich bleibt sie aber nicht bei der Feststellung stehen, dass die Geschlechter-Ideale letztlich unerfüllbar sind, sondern hat den Zusammenhang zwischen der männlichen und der weiblichen Geschlechterrolle auch ganz klar als patriarchales Verhältnis kritisiert. Das stand in der DDR im Widerspruch zu der staatsoffiziellen Behauptung, dass die Geschlechterfrage im Sozialismus gelöst sei. Aber Wolf hat eben auch, in Abgrenzung von bürgerlichen und linken Feministinnen aus dem Westen, am Universalismus festgehalten und die – in meinen Augen richtige – Position vertreten, es müsse weiterhin um die allgemein menschliche Befreiung gehen, die eben auch die Männer einschließt. Ist Wolf vor diesem Hintergrund eigentlich als Feministin beschreibbar?
Aus heutiger Perspektive auf jeden Fall! Und rückblickend hat Wolf irgendwann auch selbst gesagt, dass ihr Werk feministisch zu verstehen ist und sie auch feministisch agiert hat. Aber lange Zeit hatte sie sich mit dem westlich geprägten Feminismus, wie er in den 1980er Jahren verbreitet war, nicht identifizieren können. Sie äußerte sich beispielsweise mehrfach über den Feminismus von Alice Schwarzer dahingehend, dass sie dessen grundsätzliche Feindseligkeit gegen Männer so nicht mittragen wolle. Dieser Feminismusbegriff war für Wolf einfach nicht stimmig, sie hat immer die Gesamtgesellschaft im Blick gehabt und versucht, deren herrschaftliche Strukturen aufzuarbeiten, die eben auch patriarchal geprägt sind. Es gibt ein Zitat von ihr, da sagt sie sinngemäß, »wenn Frauen jetzt dürfen, was die Männer tun, dann kommen wir hier nicht weiter« – weil das dann nur dieselbe herrschaftliche Struktur mit anderer Besetzung wäre, die eigentlich den Bedürfnissen der Menschen gar nicht gerecht werden kann.
In ihren mythologischen Buchprojekten wiederum hat Wolf archäologische Forschung, zum Beispiel Matriarchatstheorien mit feministischen Theorien zusammen gedacht. Dabei kam sie ganz klar zu dem Ergebnis: Es gibt hier patriarchal-hierarchische Strukturen, die funktionieren über Unterdrückung und Ausbeutung und wir brauchen eine andere Lösung, auch in der DDR.
Die Mythosbezüge in Wolfs Werk spielen ja auch in Ihrem Buch eine zentrale Rolle. Wie genau gehen Sie vor, welche Texte und welche Zusammenhänge schauen Sie sich an?
Ich schaue zunächst auf ganz frühe Werke, aber eher punktuell, um zu zeigen, wie Christa Wolfs literarische Arbeit begonnen hat. Die wirklichen Schwerpunkte liegen dann auf »Kein Ort. Nirgends«, »Kassandra« und »Medea. Stimmen«, in chronologischer Ordnung. Für diese Texte betrachte ich jeweils, wie Wolf die Verhältnisse von Gesellschaft und Individuum, von Mann und Frau und von Wirklichkeit und Utopie begreift und auslotet. Dafür bin ich ins Archiv in der Akademie der Künste gegangen, wo der Nachlass von Christa Wolf archiviert ist, und habe mir das Material angeschaut, was Christa Wolf zu den Entstehungszeiten der einzelnen Werke gelesen, wie sie gearbeitet hat, was sich in ihren Notizen, ihren Exzerpten aus wissenschaftlicher Literatur zeigt – und was von all dem sich am Ende tatsächlich in ihren Erzähltexten wiederfindet. Als Beispiel: Ich konnte anhand des Archivmaterials herausfinden, dass Christa Wolf während der Entstehung von »Kassandra« Literatur von Heide Göttner-Abendroth, einer Matriarchatsforscherin, gelesen hat. Deren Bücher habe ich mir dann hergenommen und verglichen mit Christa Wolfs Notizen.
Eine bürgerliche Haltung zur Kunst, die sich seit den 1980er Jahren wieder vermehrt durchgesetzt hat, behauptet, dass die Beschäftigung mit außerliterarischen Quellen für das Verfassen eines Romans nicht notwendig und auch nicht sinnvoll ist. Die Realität sei ohnehin nicht mehr eindeutig zu erfassen. Empfand Christa Wolf es als Notwendigkeit, für die Literaturproduktion auch außerliterarische Quellen hinzuzuziehen?
Das würde ich ganz klar bejahen. Christa Wolf hat Recherche für ihre Literatur als absolut notwendig erachtet. Dieses Archivmaterial zeigt eine unwahrscheinlich sorgfältige Auseinandersetzung mit vielen verschiedenen Wissensbeständen. Das bezeugt ganz klar Wolfs Anspruch, sich auch außerliterarisch auseinanderzusetzen mit Themen. Ich konnte so auch nachvollziehen, dass sich Wolf aus einem persönlichen Impuls heraus mit bestimmten Themen in einer Metaperspektive beschäftigen wollte, um einerseits für sich diese Phänomene, Mechanismen, gesellschaftlichen Zusammenhänge verstehen und verarbeiten zu können. Denselben Impuls und dasselbe Streben nach persönlicher Aufarbeitung hat sie dann auch für die Literaturentstehung verwendet.
Wolf hat immer wieder gesagt, dass ihre Werke für sie Ausdruck und Mittel zur Selbsterkenntnis, Selbstreflexionsprozesse seien. Es gibt viele Textstellen in Briefen, wo Christa Wolf sich mit ihren Protagonistinnen nahezu gleichsetzt. Da spricht sie zum Beispiel von »ihren Kassandra-Gefühlen« oder schreibt, »die Protagonistin, die bin ich selbst«. Und gleichzeitig zeigt ihre Recherchearbeit, die ich im Archiv nachvollzogen habe, wie sich Wolf immer wieder von dieser direkten Identifikation wegbewegt. Sie unternimmt da eine Gratwanderung zwischen Wissen und Fühlen, die auch ihre Bücher vermitteln.
Sie schreiben, dass sich Wolf trotz der Identifikation mit ihren Heldinnen öffentlich dagegen gewehrt hat, mit ihren Figuren gleichgesetzt zu werden, ebenso wie gegen die Vorstellung, dass ihre Literatur vor allem emotionaler Selbstausdruck sei. Beides sind Topoi einer sexistischen Literaturkritik, die ich aus der Auseinandersetzung mit der kommunistischen »BRD-Autorin« Gisela Elsner kenne. So werden hauptsächlich Autorinnen behandelt und, wie Elsner schrieb, in ein »literarisches Ghetto« verbannt.
Diesen Sexismus der Literaturkritik fand ich auch immer sehr deutlich in den Besprechungen von Christa Wolfs Werken. Sie wurde da auch häufig als die verletzte Frau dargestellt, die sich in einem moralisch überhöhten Werk dann mit Klauen und Zähnen gegen ihren Opferstatus wehrt. Und das ist viel zu nah an der Person Christa Wolf gedacht.
Wenn man sich mit dem Arbeitsprozess von Christa Wolf auseinandersetzt, dann wird ganz deutlich, dass sie überhaupt nicht als »Ich, Ich, Ich« schreibt, insbesondere nicht in diesen Werken, die ihrer Lebensrealität zeitlich und räumlich enthoben sind. Genau deswegen habe ich für meine Untersuchung die Texte »Kein Ort. Nirgends«, »Kassandra« und »Medea« ausgewählt – bei denen war für mich irgendwie der erste Impuls, zu denken, es kann gar nicht sein, dass Wolf da nur über sich schreibt. Auch wenn dann einzelne Facetten doch zu ihrem Leben gepasst haben, zum Beispiel der deutsch-deutsche Literaturstreit, wo Christa Wolf mit vielen Unterstellungen zu kämpfen hatte.
Gerade in diesem Zusammenhang ist auch die Betonung von Christa Wolfs politischem Anspruch wichtig, finde ich. Anders herum gesagt: Es ist wichtig, diese patriarchale Reduktion von Autorinnen aufs Emotional-Subjektive anzugreifen, die ja immer die Funktion hat, eine politische Mitsprache von Frauen zu verweigern.
Auf jeden Fall. In den öffentlichen Reaktionen auf Christa Wolf gibt es zwei Argumentationsstränge: Einerseits wird gesagt, sie schreibe ganz subjektiv aus ihrer Warte heraus und stilisiere sich dabei immer wieder als Opfer – was ich durch meine Forschung übrigens nicht bestätigen konnte. Auf der anderen Seite, quasi als Pendant dazu, bezeichnet man sie als »Staatsdichterin«, als irgendwie Hörige, die mehr oder weniger aus einer Position der Unmündigkeit heraus geschrieben hat. Auch diese beiden Vorwürfe sind – um zu meinem Buchtitel zurückzukommen – wieder Oppositionen der Betrachtung, die jeweils in ihrer Eindeutigkeit nicht zu halten sind.
Was ist das denn überhaupt für eine Frechheit, einer Frau, die das Patriarchat und damit ihre eigene Unterdrückung kritisiert, vorzuwerfen, sie stilisiere sich zum Opfer? Das ist ja keine Selbstinszenierung von Christa Wolf, sondern eine korrekte Beschreibung der Realität. Genau dasselbe gilt übrigens für diesen deutsch-deutschen Literaturstreit Anfang der 1990er Jahre: Da wurde Wolf persönlich angegriffen, eigentlich ging es aber um den Sozialismus – beziehungsweise die Weigerung einer prominenten Autorin, ein Lippenbekenntnis der Distanzierung vom Sozialismus zu leisten.
Ja, die Behandlung von Christa Wolf im Feuilleton ist besonders in der Nachwendezeit häufig sehr unsachlich gewesen. Da fand ich in meiner Forschung auch wieder diese beiden Beschreibungen, sie sei entweder »hörig« oder stilisiere sich als Opfer und schreibe nur aus ihrer subjektiven Warte. Beides ist wissenschaftlich definitiv nicht zu halten. Und ich stimme Ihnen auch vollkommen zu, dass diese Dinge viel häufiger Frauen, also Autorinnen nachgesagt werden. Männer dagegen haben ihren Genie-Status.
Dieser unsinnige Geniebegriff ist die eine Sache. Die andere ist, dass Männern schlicht ein rationaler, objektiver Blick auf die Dinge zugestanden wird – absurderweise, würde ich in vielen Fällen sagen. Aber nochmal zum Politischen: Bis heute wird Christa Wolf häufig das Label »DDR-Schriftstellerin« vorweggestellt. Das ist zwar in der BRD zumeist abwertend gemeint, soll ja vor allem aber auch heißen, dass sie eben Sozialistin war.
Ich würde auf jeden Fall unterschreiben, dass Christa Wolf Sozialistin war. Aber wie ich vorhin schon gesagt habe, hatte sie eine Kritik an der Umsetzung des eigentlichen sozialistischen Grundgedankens. Ab den 1980er Jahren spricht sie ja dann auch von »Industriestaaten«, die aufgrund von kapitalistischen, ausbeuterischen Strukturen so sind, wie sie eben sind – und hat damit auch die DDR gemeint.
Zu Recht, würde ich auch sagen. Aber Wolfs Eingemeindung als gesamtdeutsche Autorin, die es ja auch gibt, ist wiederum eher eine »feindliche Umarmung«. Denn man kann sich als Sozialistin oder Kommunistin verstehen, auch wenn die DDR nicht die Verwirklichung davon war. Aber dafür war kein Platz in der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft – nicht in der Nachwendezeit, aber auch heute nicht.
Kritisch zu sehen ist auch diese hoheitliche Positionierung seitens der BRD. Da wurde aus so einer Überlegenheitshaltung heraus über den Staat DDR geurteilt, der – wir wissen es jetzt – gescheitert ist. Und es wurde auch über die Menschen geurteilt, die in diesem Staat gelebt hatten. Besonders in der Wendezeit war Christa Wolf da eigentlich eine sehr wichtige Stimme, aber man hat sich nicht die Zeit genommen, sie anzuhören.
Ich würde sagen, es wurde sich nicht nur die Zeit nicht genommen, sondern es durfte nicht stattfinden in der BRD der 1990er Jahre, dass da eine öffentlich am Sozialismus festhält.
Ja. Der Westen wollte die Bestätigung, dass der Sozialismus gescheitert ist.
Wo sehen Sie eigentlich die Gegenwartsrelevanz von Christa Wolfs literarischem Werk?
Ihr Ausspruch »Literatur muss Friedensforschung sein« beispielsweise, der ist aktueller denn je. Christa Wolf hat ja zum Beispiel dieses Kriegstreiben ganz gut dargestellt, und dass das letztlich immer Menschen sind, die da handeln. Zum Beispiel ist die kriegerische Auseinandersetzung Teil der Erzählung »Kassandra«, die 1983 erschien, und das Buch wurde dann auch ganz stark im Kontext des Kalten Kriegs, von »Ost gegen West« interpretiert – was eigentlich zu kurz gegriffen ist. In der pazifistischen Betrachtung von Krieg, die Christa Wolf da anstellt, steckt für mich immer noch viel Realitätsgehalt und Aktualität. Und auch mit ihrem feministischen Ansatz, der ja eigentlich schon eine genderkritische Perspektive einnimmt, war Wolf absolut ihrer Zeit voraus. Einen dritten gegenwartsrelevanten Aspekt – Stichworte Wirklichkeit und Utopie – sehe ich in der Diskussion um Fake News: Wer hat die Macht, über vermeintliche Wahrheiten zu entscheiden? Das ist ja geradezu schmerzlich aktuell.
Das Buch »Oppositionen im Dialog:
Schreibprozess und poetologisches Konzept«
von Birgit Bockschweiger ist im Frühjahr 2022
im Verbrecher Verlag erschienen. Es eröffnet dort die Reihe »Christa-Wolf-Forum«, die von Carsten Gansel, Therese Hörnigk und Anke Jaspers in Zusammenarbeit mit der Christa-Wolf-Gesellschaft herausgegeben wird.
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