Zehn Herausforderungen für Die Linke

Thesenpapier einer Arbeitsgruppe der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Krise der Partei

  • Lesedauer: 8 Min.

Die Lage der Partei Die Linke ist durch einen schreienden Widerspruch geprägt: Sie verfügt über ein starkes Potenzial von knapp einem Fünftel der Wahlbevölkerung und wird doch immer weniger gewählt. Sie hat in den letzten zehn Jahren 30 000 neue, vornehmlich junge Mitglieder gewonnen und ist trotzdem nicht auf der Höhe der Zeit. Ihre sozialen Forderungen werden breit unterstützt, sie selbst aber nicht. Gerade jene, die des sozialen Schutzes am meisten bedürfen und für die Gerechtigkeit im Zentrum steht, sehen in der Partei Die Linke nicht ihren Ansprechpartner und ihre politische Vertretung. Die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus ist für mehr als ein Drittel der Bevölkerung wichtig, aber nicht die sozialistische Partei Die Linke.

Die Partei sieht sich als Die Linke, vertrat aber in allen zentralen Fragen der letzten Jahre (Migration, Klima, Corona, Ukraine-Krieg) völlig gegensätzliche Positionen. Diese Widersprüche stellen die Existenz der Partei in Frage. Dabei wird sie als politische Kraft der Solidarität in Zeiten der Krisen und Umbrüche dringend gebraucht. Voraussetzung ist, dass sie sich erfolgreich zehn Herausforderungen stellt.

Die Autoren

Der hier veröffentlichte Text ist die stark gekürzte Fassung einer Analyse, die von einer Arbeitsgruppe der Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellt wurde. Zu dieser Gruppe gehören die Stiftungsvorsitzende Dagmar Enkelmann, der Präsident der Europäischen Linken Heinz Bierbaum, der Direktor des Stiftungsinstituts für Gesell­schafts­ana­ly­se der Stif­tung Mario Candeias, der Philosoph Michael Brie, der Publizist Richard Detje sowie Sophie Dieckmann, Heinz Hillebrandt und Moritz Warnke. Die Langfassung des Papiers kann auf www.rosalux.de gelesen und bestellt werden.

Erstens ist unübersehbar, dass der Aufbau eines Zentrums der strategischen Führung der Partei in der Einheit von Bundespartei und Bundestagsfraktion die nächste und dringlichste Herausforderung ist. Die damit verbundene Aufgabe muss 2022 gelöst werden, wenn Die Linke noch eine Zukunft haben soll. Nach dem Zusammenschluss von PDS und WASG ist es nicht gelungen, eine dauerhafte neue Einheit herzustellen. Die Partei wird von drei Teilprojekten geprägt – einem linkssozialdemokratischen Projekt (mit Schwerpunkt im Westen), der Bewegungslinken als Bezugsort für jüngere und aktivistischere Teile der Partei und dem in sich differenzierten Reformerlager (vor allem im Osten). Alle drei Teilprojekte stehen bisher unverbunden neben- und teilweise gegeneinander. Wenn der kommende Parteitag nicht zum Ausgangspunkt wird, eine strategische Einheit herzustellen, wird Die Linke scheitern.

Zweitens muss sich Die Linke wieder auf ihren Markenkern als sozialistische Gerechtigkeitspartei besinnen. PDS, WASG und Linke waren immer dann stark, wenn sie mit überzeugenden Positionen Gerechtigkeit ins Zentrum rückten. 96 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind der Auffassung, dass der Wohlstand in Deutschland nicht gerecht verteilt ist. Die Klimafrage ist eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber nachfolgenden Generationen und 72 Prozent wünschen sich auch deshalb einen grundlegenden Wandel. Gerechtigkeit ist modern! Doch deren praktische Durchsetzung traut man der Linken kaum zu. Auf dem Gebiet der Umwelt- und Klimapolitik sind es nur drei Prozent, die der Partei Die Linke Kompetenz zusprechen, in Fragen der Wirtschaftspolitik gar nur ein Prozent, bei der Digitalisierung zwei Prozent. Die Linke wird nicht als Zukunftspartei wahrgenommen.

Drittens kann sich Die Linke in der aktuellen Situation nur dann als sozialistische Gerechtigkeitspartei positionieren, wenn es ihr gelingt, sich als Partei des sozialökologischen Systemwechsels und konsequente Friedenspartei zu profilieren. Wir leben im Zeitalter des Krisen- und zunehmend des Katastrophen- und des Kriegskapitalismus. System Change, not Climate Change – das ist eine richtige Losung. Ökologische und soziale Erfordernisse müssen miteinander verbunden werden. Das Konzept »gerechter Übergänge« greift diese Forderung auf. Zur sozial-ökologischen Transformation gehört untrennbar die Wirtschaftsdemokratie.

All dies verweist auf eine grundlegende Veränderung der Regulation der Wirtschaft und der Sozialsysteme, der Macht- und Eigentumsverhältnisse sowie auf eine neue Produktions- und Lebensweise. Es geht um einen Systemwechsel und dies auch in der Friedens- und Sicherheitspolitik. Die Linke sollte eine der treibenden Kräfte für die Schaffung einer neuen internationalen Sicherheitsarchitektur unter Führung der Uno und die Ächtung der atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen sein. Die Reduzierung von Kriegen und militärischen Auseinandersetzungen ist eine Grundvoraussetzung, um eine sozial-ökologische Transformation zu ermöglichen.

Viertens ist es dringend erforderlich, den aktuellen Krisen des Kapitalismus durch die Verbindung von sozialem Schutz, Gestaltung der Umbrüche und dem notwendigen Systemwechsel zu begegnen. Nur dann, wenn Die Linke diese Verbindung überzeugend repräsentiert, hat sie im politischen System der Bundesrepublik einen praktischen Gebrauchswert. Wahrnehmung der Schutzinteressen und Zukunftsorientierung gehören zusammen. Es gilt, die Forderung nach sehr weitgehender Transformation der vorherrschenden Produktions- und Lebensweisen mit konkreten glaubwürdigen Sicherheitsversprechen zu verbinden. Ohne Einsatz für Sicherheit und eine Jobgarantie kann es keine Gerechtigkeit in den Umbrüchen geben.

Fünftens muss durch ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis die Grundlage für eine solche Politik der Verbindung von Schutz, Gestaltung und Systemwechsel geschaffen werden. Die Linke ist wie alle linken Organisationen damit konfrontiert, dass die kapitalistische Konkurrenz die Klasse der Lohnabhängigen spaltet – regional, national, europäisch, global; entlang von Geschlecht und Identität, von Alter, staatsbürgerlichem Status und Hautfarbe. Linke Parteien müssen bessergestellte soziale Gruppen mit denen in der bedrohten unteren Mitte und im sozialen Unten solidarisch verbinden. Nur so entstehen populäre Projekte und linke Volksparteien. Gerade jene Gruppen, die gemeinsam die Grundlage einer handlungsfähigen Linken bilden müssten, sind durch ihre Klassenlage im besonderen Maße bei den Forderungen zur gerechten Gestaltung der Gesellschaft vereint und zugleich kulturell getrennt. Die bessergestellten Gruppen tragen besondere Verantwortung, diese Verbindung herzustellen.

Sechstens: Die Linke kann ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis nur dann entwickeln, wenn sie starke Bindungen zur Welt der industriellen Arbeit, der öffentlichen Daseinsvorsorge und der sozialen Dienste sowie zu den emanzipatorischen sozialen Bewegungenherstellt. Ein besonderer Schwerpunkt sollte die Entwicklung enger Beziehungen zu den Gewerkschaften und auch in Betriebe hinein sein. Mit der Gründung des Gewerkschaftsrats der Partei Die Linke 2022 auf Bundesebene wurde dazu ein neuer Schritt getan. Viele junge Mitglieder der Linken sind eng mit den sozialen und ökologischen Bewegungen, aber kaum oder nicht mit den Gewerkschaften verbunden. Nur gemeinsam aber kann etwas verändert werden.

Siebentens können aus diesen Gemeinsamkeiten heraus konkrete Einstiegsprojekte in den sozialökologischen Systemwechsel und für eine neue Friedens- und Sicherheitspolitik entwickelt werden. Insgesamt wird Die Linke bundesweit gegenwärtig nicht als Partei der sozialökologischen Umgestaltung und gestaltender Europa- und Friedenspolitik wahrgenommen. Ansätze aus den Kommunen und Landesregierungen strahlen nicht bundesweit aus. Eine Ausnahme bildete die Unterstützung für die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen in Berlin. Es sollte versucht werden, im engen Austausch mit Gewerkschaften, BUND, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden sowie sozialen Bewegungen und den Bürgerinnen und Bürgern an solidarischen Alternativen zum grünkapitalistischen Projekt zu arbeiten und dies als verbindende Grundlage für Wahlprogramme, das Wirken vor Ort und die parlamentarische Arbeit zu machen. Die Linke muss in den real ablaufenden Transformationsprozessen betrieblich präsent sein und in diese Prozesse politisch orientierend eingreifen.

In den zentralen programmatischen Fragen müssen Korridore bestimmt werden, innerhalb derer linke Positionen in der Partei vertreten werden können. Dies schließt zum einen ein, nach vorne weisende Orientierungen zu erarbeiten, und zum anderen deutlich erkennbar Grenzen gegenüber Positionen zu ziehen, die mit der Programmatik der Partei völlig unvereinbar sind. Zugleich sollte ein Prozess eingeleitet werden, der im Laufe eines Jahres dazu führt, die programmatischen Defizite in der Partei zu überwinden.

Achtens besteht auf dieser Grundlage eine Herausforderung darin, wieder eine lebendige Mitgliederpartei zu werden. Der programmatische Prozess kann dabei helfen. Die Linke hat seit 2011 eine sehr starke Veränderung der Mitgliedschaft hinter sich gebracht, so dass man nicht mehr von derselben Partei sprechen kann. Mehr als die Hälfte der rund 60 000Mitglieder sind seitdem neu eingetreten, mehrheitlich im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, viele Ältere haben die Partei verlassen oder sind gestorben. Jene, die aus der SED bzw. aus der SPD oder linken Gruppen in Westdeutschland vor 1990 kommen, stellen jetzt die Minderheit.

Um Anziehungspol in der Gesellschaft zu sein, muss die Partei als solidarische, lebendige Mitgliederpartei erlebbar sein. Die Mitglieder wünschen sich mehr Einigkeit, mehr Debatte untereinander, mehr Kontakt zur Partei vor Ort. Wer zur Partei Die Linke kommt, muss eine offene Kultur vorfinden. Dazu gehört auch, Orte und Gelegenheiten in der Partei zu schaffen, in denen die Mitglieder ohne Entscheidungsdruck zusammenkommen, politisch diskutieren, Erfahrungen austauschen, solidarisch Konflikte austragen, Spaß haben können und ein Dialog der Generationen gelingt. Sowohl politisch-inhaltliche Grundlagenbildung als auch praktisch-organisatorisches Handwerkszeug gilt es zu vermitteln. Zu einer attraktiven Mitgliederpartei gehört die offene Auseinandersetzung damit, dass gesellschaftliche Diskriminierungs- wie Herrschaftsstrukturen nicht vor linken Organisationen haltmachen.

Neuntens geht es um die Verbindung von drei Funktionen einer linkssozialistischen Partei – als Kümmerer im Alltag, als in gesellschaftliche Diskurse eingreifende Kraft und als wirkungsvoller parlamentarischer Akteur – in Gemeinden, Regionen und Bundesländern. Linke Parteien sind dann stark, wenn sie sich erstens als Kümmererparteien erweisen und ihren Gebrauchswert bezogen auf die konkreten Alltagssorgen von Menschen in den Kommunen und Betrieben zeigen. Zweitens kommt es darauf an, in die öffentlichen Diskurse einzugreifen und erfolgreich eigene Themen zu setzen sowie gesellschaftlichen Forderungen in den Parlamenten Ausdruck zu verleihen. Drittens geht es um wirksame Arbeit der Partei in den legislativen und teilweise auch exekutiven Organen. Zugleich bedarf es einer Veränderung der Satzung, damit Pluralität erhalten und gemeinsame Führung der Bundespartei und der Bundestagsfraktion, Steigerung der Effektivität der Arbeit und Sicherung der innerparteilichen Demokratie endlich möglich wird.

Zehntens braucht eine sozialistische Partei ein zeitgemäßes neues Verständnis von Sozialismus. Es gibt die Erfahrung der dramatischen Krisenhaftigkeit des heutigen Kapitalismus, den wachsenden Zweifel größerer Teile der Bevölkerung daran, dass im Kapitalismus ein gutes Leben für alle möglich ist. Die Vorschläge eines sozialökologischen Systemwechsels tragen zwangsläufig einen offenen sozialistischen Charakter: Dominanz der Gemeinwohlorientierung, Rolle von demokratischer Planung und Wirtschaftsdemokratie, Ausbau der Gemeinwohlökonomie und Rückabwicklung der Privatisierung vieler öffentlicher Dienstleistungen, Heranziehung der privaten Vermögen für gemeinschaftliche Zukunftsaufgaben, möglichst umfassende Absicherung in Zeiten struktureller Umbrüche, Schaffung von Transformationsräten, globale Gerechtigkeit usw. Aus diesen Elementen und Keimformen heraus kann gezeigt werden, was Sozialismus – verstanden auch als solidarische Gesellschaft – ist.

Die Linke wird dringend gebraucht – doch dafür muss sie sich erneuern.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -