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Vom Schandmal zum Mahnmal
Schmähplastik an Stadtkirche Wittenberg darf laut Urteil des Bundesgerichtshofs bleiben
Am Zweck des Reliefs, das hoch oben an der Fassade der Stadtkirche von Wittenberg zu sehen ist, gibt es keine Zweifel. Es zeigt ein Schwein, an dessen Zitzen zwei Menschen mit spitzen Hüten saugen und dem ein dritter unter den Schwanz schaut, und es habe »von Anfang an und immer nur der Diffamierung und Verunglimpfung von Juden« gedient. Zu dieser Bewertung kommt der Bundesgerichtshof (BGH), der sich auf eine Klage des Berliner Juden Michael Düllmann hin mit der Schmähplastik befassen musste und jetzt sein Urteil bekannt gab. Der 79-jährige hatte mit dem Schritt die Kirchgemeinde zur Entfernung des Kunstwerkes zwingen wollen. Doch obwohl die Richter betonen, dass »kaum eine bildliche Darstellung denkbar ist, die in höherem Maße im Widerspruch zur Rechtsordnung steht«, wiesen sie das Ansinnen zurück: Die »Wittenberger Sau«, so das Urteil, kann hängen bleiben. Damit bestätigte der BGH die Urteile eines Landes- und des Oberlandesgerichts Sachsen-Anhalt.
Die Schmähplastik, die gemeinhin als »Judensau« bezeichnet wird, verunziert die Fassade der Kirche seit 730 Jahren. Sie ist Zeugnis einer im Christentum früher weit verbreiteten Judenfeindschaft. Ähnliche Abbildungen finden sich an rund 50 Kirchen in Deutschland. Schweine gelten im Judentum als unrein und verkörperten in der christlichen Kunst des Mittelalters den Teufel. Die Plastik in Wittenberg wurde im Jahr 1570 durch eine Inschrift ergänzt, die sich auf zwei üble antijudaistische Schriften des Reformators Martin Luther bezog, der in dieser Kirche gepredigt hatte und dessen Judenhass vielfach belegt ist. Das Kunstwerk, so der BGH, sollte Juden »verächtlich machen, verhöhnen und ausgrenzen«.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Debatten darüber, ob solche Plastiken erhalten werden sollen, gab es immer wieder. In Wittenberg entschied sich der Gemeindekirchenrat 1983, die »Judensau« sanieren zu lassen. Damit sei die »diffamierende Aussage« der Gemeinde prinzipiell zuzurechnen, betont der BGH. Allerdings entschied man sich auch, die Schmähplastik nicht mehr unkommentiert zu zeigen. Am 11. November 1988 wurde auf dem Platz vor der Kirche eine in Bronze gegossene Bodenplatte enthüllt. Die Inschrift des vom Künstler Wieland Schmiedel entworfenen Kunstwerks schlägt einen Bogen von der mittelalterlichen Verhöhnung der Juden zum Holocaust und dem Mord an sechs Millionen Juden.
Mit Anbringung der Bronzeplatte verändert das Kunstwerk seinen Charakter, urteilt der Bundesgerichtshof und greift damit die Argumentation der beklagten Kirchgemeinde auf. Damit sei das vormalige »Schandmal« in ein »Mahnmal zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung der Juden« umgewandelt worden, heißt es im Urteil. Diese künstlerische Kommentierung sei »eine der Möglichkeiten, den rechtsverletzenden Aussagegehalt zu beseitigen«, fügten die Richter an. Die vom Kläger monierten Missstände könnten nicht allein durch Entfernung der Skulptur beseitigt werden. Düllmanns Anwalt hatte in der müdlichen Verhandlung am BGH Ende Mai vorgebracht, die Erklärungen auf der Tafel reichten nicht aus, und die Kirche übernehme keine Verantwortung. Schon damals hatte der Kläger angekündigt, im Fall einer erneuten Niederlage zum Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof ziehen zu wollen.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, zeigte sich nicht zufrieden mit dem Urteil. Zwar sei es »nachvollziehbar«, dass die Schmähplastik nicht entfernt werden müsse. Gleichwohl enthielten weder die Bronzeplastik noch eine erklärende Tafel eine »unzweideutige Verurteilung des judenfeindlichen Bildwerks«. Die Wittenberger Gemeinde und die Kirchen insgesamt müssten eine »klare und angemessene« Lösung für den Umgang mit derlei Kunstwerken finden. Auch Christian Staffa, Beauftragter der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) für Antisemitismus, erklärte, die Kirche müsse sich »intensiv an den judenfeindlichen Bildern in unserer Tradition abarbeiten und ihnen aktiv etwas entgegensetzen«. Dabei gehe es um »intensivere Aufklärung« und visuell andere Lösungen, die »judenfeindliche Darstellungen nicht kaschieren, sondern dieses furchtbare Erbe unserer protestantischen Tradition zum Thema machen.«
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