London provoziert die EU

Britische Regierung will Nordirland-Protokolle einseitig abändern

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Er habe ja gar keine andere Wahl gehabt, behauptet Boris Johnson. Das Gesetz, das die britische Regierung am Montagabend vorlegte, sei dringend notwendig, um den Friedensprozess in Nordirland zu sichern, so der Premierminister. Auch seine Außenministerin, Liz Truss, versicherte: »Dies ist eine vernünftige, praktische Lösung für die Probleme, vor denen Nordirland steht.«

Mit dieser Einschätzung ist die britische Regierung jedoch allein: Seit der Publikation der Vorlage hagelt es von allen Seiten heftige Kritik – aus Brüssel, Dublin, selbst aus London. Mit dem Gesetz breche Großbritannien internationales Recht, sagen Kritiker, und der irische Premierminister Micheál Martin spricht von einem »neuen Tiefpunkt in den irisch-britischen Beziehungen«.

Zur Erinnerung: Das Problem, das die Regierung in London mit dem neuen Gesetz angehen will, ist das Grenzregime in Nordirland. Das Nordirland-Protokoll ist Teil des Brexit-Vertrags von 2019. Es schreibt vor, dass die britische Provinz im Prinzip Teil des EU-Binnenmarktes bleibt. Das heißt aber, dass sich die Zollgrenze in die Irische See verschiebt, dass also Güter, die von Großbritannien nach Nordirland geliefert werden, Kontrollen und bürokratischem Papierkram unterliegen. Das verursacht vielen Unternehmen in der Provinz Kopfschmerzen, und es ist den nordirischen Unionisten ein Dorn im Auge, denn sie befürchten, dass dies der Anfang der irischen Wiedervereinigung sein könnte.

Seit Monaten verhandeln London und Brüssel über eine Lösung. Aber der britischen Regierung geht es zu langsam, sie hat die bisherigen Vorschläge der EU zurückgewiesen. Stattdessen ist sie vorgeprescht mit dem neuen Gesetz, das einen guten Teil der Zollkontrollen über Bord werfen würde. Der Plan sieht beispielsweise eine »grüne Route« vor für jene Güter, die in Nordirland bleiben, und eine »rote Route« für Waren, die danach weiter in die Republik Irland und damit in die EU transportiert werden.

Aber das Gesetz geht weiter: Streitigkeiten sollen durch unabhängige Schiedsverfahren und nicht durch den Europäischen Gerichtshof beigelegt werden – dies ist seit langer Zeit eine Forderung der Brexit-Anhänger in Westminster. Und die Vorlage gibt der britischen Regierung die Möglichkeit, das Protokoll mehr oder weniger nach Lust und Laune zu ändern. Die angesehene Hansard Society, die Studien zur parlamentarischen Demokratie herausgibt, schreibt auf Twitter, dass die Kompetenzen, die sich die Regierung laut Gesetz gibt, »ziemlich atemberaubend« seien.

Außenministerin Truss besteht jedoch darauf, dass die Gesetzesgrundlage rechtlich auf solider Basis stehe: Sie beruft sich auf die »Doktrin der Notwendigkeit«, laut der internationale Verpflichtungen gebrochen werden können, wenn dies im »wesentlichen Interesse« eines Staates liege. Aber dieses Argument ist laut Rechtexperten eher dubios: Jonathan Jones, ehemaliger Rechtsberater der Regierung, hält es für »überhaupt nicht überzeugend«. Die EU werde das Gesetz verständlicherweise als einen Bruch des Brexit-Abkommens verstehen.

EU-Vizekommissionspräsident Maros Šefčovič, sagte am Montag, dass der Schritt der britischen Regierung »erhebliche Bedenken« verursache; unilaterale Handlungen würden dem gegenseitigen Vertrauen schaden. Die EU studiert den Gesetzestext derzeit – und behält sich vor, rechtlich dagegen vorzugehen. Ein erster Schritt ist bereits getan: Die Kommission hat ein früheres Rechtsverfahren gegen Großbritannien, bei dem es um einen anderen Verstoß gegen das Nordirland-Protokoll geht, wieder aufgenommen. Eine Neuverhandlung des Protokolls, wie sie Großbritannien fordert, hat die EU erneut ausgeschlossen.

Das Gesetz wird nicht unmittelbar in Kraft treten. Es wird wochenlang debattiert werden, und es ist gut möglich, dass das Oberhaus manche Klauseln abschwächen wird. Wichtiger für Johnson ist die Frage, wie der Vorstoß in Nordirland aufgenommen wird. Denn ein Zweck besteht darin, die nordirischen Unionisten zu einer Regierungsbildung zu bewegen: Die Democratic Unionist Party (DUP) verweigert sich seit Monaten einer Regierungsbeteiligung bis die Probleme mit dem Protokoll behoben sind. Noch ist nicht sicher, ob das Gesetz ausreichen wird, um die Hardliner zu besänftigen.

Die Mehrheit der nordirischen Politiker hingegen lehnt das Gesetz entschieden ab: Am Montag unterschrieben 52 von insgesamt 90 Mitgliedern des Regionalparlaments in Belfast einen offenen Brief an Boris Johnson, in dem sie die Vorlage als »leichtsinnig« bezeichnen. »Sie widerspricht nicht nur den Wünschen der meisten Unternehmen, sondern auch der Mehrheit der nordirischen Bevölkerung.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.