»Ungerechtfertigte Bereicherung«

Familien mit Hartz-IV-Bezug sollen ihre Ersparnis durch das 9-Euro-Ticket zurückzahlen

Das 9-Euro-Ticket soll als Entlastung für die gestiegenen Verbraucherpreise dienen. Drei Monate lang gibt es dieses stark vergünstigte Monatsticket für den öffentlichen Nahverkehr und für Regionalzüge. Doch diese finanzielle Hilfe kommt bei vielen Menschen in Armut nicht an. In den meisten Bundesländern übernehmen die Jobcenter die Kosten für die regulären Schüler-Monatsfahrkarten. Das 9-Euro-Ticket ist jedoch um einiges günstiger. Wenn ein Jobcenter zunächst den Normalpreis für das Schülerticket bewilligt hat, kann das Amt den Differenzbetrag zum 9-Euro-Ticket zurückverlangen. Und genau das werden viele tun, das haben Ministerien in mehreren Bundesländern auf Nachfrage mitgeteilt.

Zuerst hatte das Portal HartzIV.org darüber berichtet. Das zuständige Wirtschaftsministerium in Baden-Württemberg nennt gegenüber der »Westfälischen Allgemeinen Zeitung« den Differenzbetrag, den der Empfänger ansonsten zusätzlich auf seinem Konto hätte, eine »ungerechtfertigte Bereicherung«. Für Familien in Hartz IV bedeutet das, sie müssen den Differenzbetrag entweder zurückzahlen oder sie erhalten für die Zeit ab Juni bis August, in der das vergünstigte Ticket gilt, entsprechend weniger Geld.

Auch in Bayern, Niedersachsen und Thüringen müssen sich Familien in Hartz IV laut den zuständigen Ministerien darauf einstellen, dass sie den Differenzbetrag zurückzahlen müssen. »Solche Pläne sind zutiefst unsozial und entschieden abzulehnen«, kommentierte Jeannine Rösler, Vorsitzende der Linksfraktionin in Mecklenburg-Vorpommern, am Dienstag. »Die Einschätzung, dieses Ticket sei eine ›ungerechtfertigte Bereicherung‹, (…) zeugt von sozialer Kälte und völliger Unkenntnis über die zunehmend existenzbedrohende Lage der Menschen in Armut«, stellte Rösler fest.

In Schleswig-Holstein erhalten betroffene Familien für ihre Kinder zwar einen Änderungsbescheid, weil sich die Grundlagen durch das 9-Euro-Ticket geändert haben. Auf eine Forderung nach Rückzahlung werde laut HartzIV.org jedoch verzichtet. So wollen es auch Sachsen-Anhalt und Brandenburg handhaben. Das zuständige Ministerium in Hessen gab an, dass Hartz-IV-Empfänger sich den Preis für das 9-Euro-Ticket sogar erstatten lassen können. Zumindest dann, wenn sie dieses selbst gekauft haben, so HartzIV.org. Da in Hamburg die Kosten sowieso direkt von der Behörde für Schule und Berufsbildung getragen werden, ändert sich dort nichts. Rheinland-Pfalz hat sich noch zu keiner Handhabe bei der Thematik entschieden.

Das Sozialministerium in Thüringen antwortete auf Nachfrage von »nd.DerTag«, man habe auf die Entscheidungen der Jobcenter keinen Einfluss. In diesem Fall seien die Landkreise und kreisfreien Städte zuständig. »Die finanzielle Entlastung durch das 9-Euro-Ticket sollte allen zugute kommen«, so Thüringens Sozialministerin Heike Werner (Linke). »Es geht hier insbesondere um Geld für Schülertickets. Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien dürfen nicht die Verliererinnen und Verlierer der Aktion sein«, so Werner. Auch in Niedersachsen wird betont, am Ende entscheide die Verwaltungspraxis vor Ort, also das Jobcenter.

Wie die Bundesländer, die auf eine Rückforderung verzichten möchten, dies durchsetzen wollen – wenn letztlich die Jobcenter entscheiden –, ist teils unklar. Die Nachfrage von »nd« an das zuständige Wirtschaftsministerium in Schleswig-Holstein blieb unbeantwortet. Ein Sprecher des Sozialministeriums in Sachsen-Anhalt schrieb, bei einer Kostenerstattung für Schülerbeförderung aus dem Bildungs- und Teilhabepaket ergebe sich kein Erstattungsanspruch.

Für Familien, die von Hartz IV leben, bedeutet der bundesweite Flickenteppich Ungewissheit, ob und wann sie Geld zurückzahlen müssen. Vor allem angesichts der stark gestiegenen Verbraucherpreise ist es belastend, mit Rückzahlungen rechnen zu müssen. Unklare Regelungen sind bei Hartz IV jedoch nichts Neues. Für Leistungsbeziehende ist Ohnmacht im Umgang mit Behörden eine alltägliche Erfahrung, heißt es in einer Pressemitteilung des Bündnisses Nationale Armutskonferenz von Mittwoch.

»Bisher verhindern die Hartz-IV-Regelsätze, dass Kinder an der Gesellschaft teilhaben und gesund aufwachsen können«, erklärt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VDK, gegenüber »nd«. Auch der Sofortzuschlag in Höhe von 20 Euro gleiche das nicht aus. Diesen erhalten Kinder und Jugendliche in Familien, die Sozialleistungen empfangen, ab Juli. Der Zuschlag dient der Überbrückung zur Einführung einer Kindergrundsicherung. »Derzeit ermöglicht das 9-Euro-Ticket auch ärmeren Familien, mit ihren Kindern zu verreisen«, hebt Bentele den Vorteil hervor. Nach den drei Monaten könnten die Kinder ihre Monatskarten wieder nur für den Schulweg nutzen. »Deshalb fordert der VDK, das 9-Euro-Ticket für Menschen mit kleinen Einkommen auch nach den Sommermonaten beizubehalten.«

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