- Wirtschaft und Umwelt
- Affenpocken
Schwerfällig, aber nicht harmlos
Das Affenpockenvirus breitet sich in nichtendemischen Gegenden aus. Fachleute sind besorgt
Angesichts der weiteren Ausbreitung der Affenpocken berät die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über die Ausrufung einer »gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite«. Über diese höchste Warnstufe soll in der kommenden Woche ein Notfallausschuss beraten, den WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus einberufen hat. Die Ausrufung wäre vor allem aber eine Mahnung an die Adresse der Regierungen, endlich Gegenmaßnahmen zu ergreifen. »Wir wollen nicht warten, bis die Lage außer Kontrolle gerät«, erläuterte Ibrahima Socé Fall, WHO-Regionaldirektor für Afrika, das Vorgehen.
Der UN-Organisation wurden mittlerweile aus 39 Ländern gut 1600 bestätigte Fälle und noch einmal so viele Verdachtsfälle der Viruserkrankung gemeldet. Hauptsächlich betroffen ist im Wissenschaftssprech die Gruppe der »MSM« – Männer, die Sex mit Männern haben. In Deutschland sind laut Robert-Koch-Institut (RKI) 229 Fälle gemeldet, der Großteil davon aus Berlin. Doch es kommen ständig weitere Regionen hinzu, zuletzt Kaiserslautern.
Die Zahlen sind noch niedrig, aber Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, da viele Betroffene mit leichtem Verlauf wohl aus Scham nicht zum Arzt gehen oder eher auf ein harmloses Herpesvirus tippen. Die Fachwelt ist vor allem deshalb aufgeschreckt, weil sich das Virus erstmals in Gegenden ausbreitet, in denen es bisher nicht endemisch war. Dazu zählte bisher nur eine Handvoll Länder in West- und Zentralafrika. Bei den jetzigen Ausbrüchen gibt es keinen Zusammenhang mit Reisetätigkeit dorthin.
Die Affenpockenerreger sind keine RNA-Viren wie Sars-CoV-2, sondern DNA-Viren. Sie verändern sich nur sehr schwerfällig, wodurch ein Erfolgsgeheimnis für die rasche Covid-19-Ausbreitung hier wegfällt. Bei den erstmals im Jahr 1970 diagnostizierten Affenpocken sind nur zwei Hauptvarianten bekannt. Gerätselt wird aktuell, ob die jetzige Ausbreitung auf eine Mutation zurückzuführen sein könnte, die womöglich auch leichter übertragbar ist.
Bisher wurde davon ausgegangen, es brauche für eine Ansteckung »einen physischen, direkten Kontakt mit den Pockenläsionen, also dem Sekret aus den Pusteln, oder einen Schleimhautkontakt mit Infizierten«, wie der Münchner Virologe Gerd Sutter in der »Zeit« erläuterte. Eine neuerliche Pandemie hält er daher für ausgeschlossen.
Auch die Deutsche Aidshilfe wiegelt, wohl wegen der drohenden Stigmatisierung der MSM, auf ihrer Webseite ab: »Die Virusinfektion ist äußerst selten und heilt in der Regel von alleine ab.« Außerdem verliefen Infektionen »fast immer milder als die echten Pocken«. Gleichwohl relativieren die Experten die Aussagen an anderer Stelle: »An Affenpocken können alle Menschen erkranken«, zumal enger Körperkontakt, den man nicht nur beim Sex habe, für eine Übertragung ausreiche.
In der Fachwelt warnt nicht nur die WHO davor, das Thema auf die leichte Schulter zu nehmen, auch wenn schwere Verläufe und Todesfälle relativ selten sind. Es gibt Risikogruppen, vor allem Menschen mit Immunschwäche, was bei zunehmendem Infektionsdruck zu einem ernsten Problem werden könnte. Theoretisch denkbar ist sogar eine exponentielle Ausbreitung, aber nur, wenn die Krankheitswelle völlig ungebremst durchläuft. Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hielte es daher für »megadumm, darüber die Kontrolle zu verlieren«.
Frühzeitige Gegenmaßnahmen sind das Gebot der Stunde, wozu zunächst Aufklärung gehören müsste. In Deutschland sind erste, aber offenbar kaum wirksame Schritte unternommen worden. So empfiehlt das RKI Infizierten eine dreiwöchige häusliche Isolation. Auch eine Kontaktnachverfolgung steht auf dem Zettel. Allerdings kommen Infizierte aus einer Szene, die Kontakte eher nicht nennt. Ebenfalls zum Problem wird dadurch eine von der Ständigen Impfkommission favorisierte Strategie, die sich »Ringimpfung« nennt: Alle engen Kontaktpersonen Infizierter werden geimpft.
Immerhin gäbe es dafür bereits ein Pockenvakzin: Imvanex von der dänischen Firma Bavarian Nordic, ein traditioneller Lebendimpfstoff. Zwar fehlt in der EU die spezielle Zulassung für Affenpocken, aber ein Einsatz auch ohne diese Formalie wird schon vorbereitet. Bavarian Nordic freut sich laut Eigenaussage über rege Nachfrage »aus vielen, vielen Ländern« und hat seine Umsatzprognose für 2022 verdreifacht. Ein Land habe bereits so viel Impfstoff bestellt, dass es seine gesamte Bevölkerung impfen könnte. Die EU meldete am Dienstag einen Vertrag über 110 000 Impfdosen. Die Bundesregierung hatte schon zuvor bis zu 40 000 Dosen bestellt, am Mittwoch kamen erste Portionen an. Kaufen Industrieländer nun wieder den Markt zulasten afrikanischer Länder leer? Das droht auch bei dem bisher einzigen einsetzbaren Medikament.
Weil wenig zu dem bisher rein »afrikanischen« Erreger geforscht wurde, ist vieles im Nebel. Immerhin soll in Kürze durch einen neuen Namen sprachlich Klarheit entstehen. Affen haben ja mit der Verbreitung wenig zu tun, und der bisherige Name könnte zudem auf Afrika hindeuten, heißt es bei der WHO. Sie möchte »jeglicher Möglichkeit von Diskriminierung oder Stigmatisierung« vorbeugen.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!