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Sag mir, wo der Leerstand ist
Aktivisten wollen Wohnungen statt Wohnungslose zählen
»Ich hasse Reden, ich bin fürs Tun!«, ruft Nicole Lindner in das Mikrofon. Und hält dementsprechend nur eine kurze Begrüßungsrede. Die Aktivistin vom Wohnungslosenparlament bringt schnell auf den Punkt, worum es bei der Mahnwache am Mittwochabend vor dem Gebäudekomplex Habersaathstraße 40-48 in Mitte geht: Gegen Leerstand, gegen symbolpolitische Aktionen wie die Obdachlosenzählung, gegen den Abriss bewohnbarer Gebäude.
Es ist die fünfte Mahnwache, die Lindner zusammen mit anderen Aktivist*innen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind oder waren, auf die Beine stellt. Etwa 50 Menschen haben sich auf der Straße zusammengefunden, eine Punkband lässt beim Soundcheck die E-Gitarre kreischen, die Nachbarschaftsinitiative A-Küche verteilt Kartoffelsuppe und gekühltes Wasser. Es ist warm.
Die vier vorherigen Mahnwachen fanden im Winter und vor dem Roten Rathaus statt. Dieses Mal soll es erst später in der Nacht von der Habersaathstraße zum Rathaus gehen. Anders als im Winter werden nicht tödliche Tiefstemperaturen zum Anlass genommen, um öffentlich an die Vergessenen der Gesellschaft zu erinnern, sondern die berlinweite Zählung von Menschen, die auf der Straße leben. Die hätte eigentlich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag stattfinden sollen. Wegen zu weniger Freiwilliger wurde sie zwar auf Januar 2023 verschoben – die Gegenkundgebung findet trotzdem statt.
Steffen Doebert, ebenfalls Teil des Wohnungslosenparlamentes, erklärt, warum er die Zählung ablehnt. Zum einen sei seit der ersten Zählung Anfang 2020 nichts passiert, um effektiv Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Zum anderen könnte die Zählung nur sichtbare Obdachlosigkeit erfassen. »Aber verdeckte Obdachlosigkeit ist viel größer, die sichtbare ist nur die Spitze des Eisberges«, sagt Doebert zu »nd«. Er denkt an Menschen, die in Dachböden schlafen, von Sofa zu Sofa bei Bekannten wechseln, oder in Sammelunterkünften untergebracht sind. »Wohnen« könne man das nicht nennen. Wenn die Zahlen dann unrealistisch gering ausfallen wie 2020, wo rund 2000 Obdachlose erfasst wurden, könne das im schlimmsten Fall als Argument für weniger politische Unterstützung dienen, befürchtet Doebert.
Deshalb lieber Leerstand zählen: Das fordern Doebert, Lindner und die anderen. Viele Spekulationsobjekte könnten bisher nicht erfasst werden, weil beispielsweise ein herausgerissener Boden oder ein kaputtes Bad eine Wohnung als sanierungsbedürftig und nicht zweckentfremdet klassifiziere, so Doebert. Er würde auch Zweit- und Drittwohnungen mitzählen. »Es kann nicht sein, dass manche Menschen mehrere Wohnungen belegen und andere müssen auf der Straße leben.« Die Habersaathstraße hält er für ein »Musterbeispiel«, noch besser wäre natürlich ein gemischtes Haus mit Bewohner*innen aus unterschiedlichen finanziellen und sozialen Klassen.
Sven gehört zu den knapp 50 neuen Bewohner*innen der Habersaathstraße 40-48 und ist seit seinem Einzug im Dezember 2021 auch in der Initiative Leerstand-Hab-Ich-Saath aktiv. Er erzählt von Streitigkeiten im Haus, die eine oder andere Tür sei bereits eingetreten worden. »Aber es ist besser als jede Massenunterkunft«, sagt Sven zu »nd«. Lange Zeit hatte er kein Dach überm Kopf: Zuerst schlief er 14 Monate in seinem Lkw, dann in einer Unterkunft. Auch er ist überzeugt, dass das effektivste Mittel gegen Obdachlosigkeit zur Verfügung gestellter Wohnraum ist. »Menschen sind hier drogenfrei geworden, haben ihr Leben wieder auf die Reihe bekommen.« Deshalb empört ihn das ständige Hin und Her von Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne). Der habe den Bewohner*innen zuerst versprochen, dass sie bis zum Abriss bleiben können, dann sei er wieder zurückgerudert. »Aber wir haben keinen Plan B«, so Sven. »Dass wir nicht einfach aufgeben, ist klar.«
Wie lange die neuen Bewohner*innen der Habersaathstraße bleiben können, wird sich zeigen. Die Eigentümerfirma Arcadia Estates forderte sie bislang zweimal zum Auszug auf mit der Begründung, ukrainische Geflüchtete unterbringen zu wollen. Solange die ehemals Wohnungslosen nicht freiwillig gehen, bräuchte der Eigentümer aber einen Räumungstitel. Ein Gericht könnte bei dieser Entscheidung die jahrelange Zweckentfremdung durch spekulativen Leerstand der knapp 100 Wohnungen mitbedenken. Sven ist deshalb optimistisch und hofft darauf, dass der Bezirk das Haus kauft.
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