- Politik
- Krise in Ecuador
»Ohne Sozialprogramme kein Frieden«
Der indigene Politiker Yaku Pérez über die Ursachen der massiven Proteste in Ecuador
Die am 13. Juni vom indigenen Dachverband Conaie ausgerufenen sozialen Proteste in Ecuador ebben nicht ab. Am 20. Juni starb ein Mensch, nachdem eine Tränengas-Granate ihn am Kopf getroffen hatte, am 23. Juni ein weiterer. Warum gibt es immer noch keine Verhandlungen zwischen Regierung und Protestbewegung?
Die Regierung in Quito agiert doppeldeutig. Auf der einen Seite mahnt sie zum Dialog, auf der anderen Seite diffamiert sie die Protestbewegung, geht repressiv gegen sie vor und versucht sie zu spalten. Das hat leider Tradition in Ecuador. In den vergangenen Jahren sind Verhandlungen immer wieder gescheitert. Vereinbarungen wurden von der Regierung nicht eingehalten, auch im Anschluss an die Proteste vom Oktober 2019. Das ist der Grund, weshalb es aufseiten der Conaie ein hohes Maß an Misstrauen gibt. Die Organisation fordert konkrete Zugeständnisse, bevor sie die Mobilisierung einstellt.
Yaku Pérez war 2021 Präsidentschaftskandidat der indigenen Partei Pachakutik und scheiterte nur knapp am Einzug in die Stichwahl. Der 52-jährige Anwalt lebt im Süden Ecuadors in der Kolonialstadt Cuenca und baut derzeit eine neue Bewegung auf. Er hat sich von Pachakutik gelöst. Mit ihm sprach für »nd« Knut Henkel.
Die Forderungen der Conaie nach Senkung der Benzinpreise, Sozialprogrammen und einem Schuldenmoratorium für Kleinschuldner liegen seit Wochen auf dem Tisch. Sind die Forderungen überzogen?
Nein, sie sind nachvollziehbar und legitim. Es sind nicht nur Forderungen, die von den indigenen Organisationen, sondern auch von anderen sozialen Organisationen wie Gewerkschaften oder Nichtregierungsorganisationen erhoben werden. Ecuador befindet sich in einer gravierenden Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosenzahlen sind hoch, die Inflation lässt die Preise für Grundnahrungsmittel steigen. Bisher hat die Regierung nur sehr partiell auf die Forderungen reagiert, deshalb halten die Proteste an.
Präsident Guillermo Lasso (seit Mai 2021 im Amt) agiert sehr widersprüchlich. Einen Tag nach Beginn der Proteste wurde der Vorsitzende der Conaie, Leonidas Irza, von der Polizei vorübergehend festgenommen. Wenig später hat Lasso hat soziale Maßnahmen und ein Schuldenmoratorium für Kleinschuldner angekündigt. Das ging der Conaie nicht weit genug. Daraufhin wurde der Ausnahmezustand verschärft. Wie beurteilen Sie das Vorgehen der Regierung?
Es passt zum amtierenden Präsidenten Guillermo Lasso. Dazu muss man wissen, dass Lasso 1999 Minister in der Regierung von Jamil Mahuad war. Damals hat er dank Insiderwissen im großen Stil Bankaktien gekauft und die Grundlage für seinen persönlichen Reichtum gelegt. Zum anderen taucht der Name Lasso auch in den Panama-Papers auf – er besitzt Offshore-Konten in Finanzparadiesen. Das ist illegal und deshalb hat Lasso in Ecuador nicht den besten Leumund. Seine neoliberale Gesinnung ist hinreichend belegt.
Derzeit geht in Ecuador die Angst um, dass Lasso weitere staatliche Unternehmen, eine Bank sowie zahlreiche Wasserkraftwerke privatisieren wird. Zu den neoliberalen Leitlinien der Regierung passen Sozialprogramme nicht, und das hat zu einer gravierenden ökonomischen, sozialen und umweltpolitischen Krise geführt. Die soziale Schere geht weiter auseinander, die Proteste sind die direkte Folge. Ohne wirkliche Sozialprogramme ist kein sozialer Frieden möglich.
Die indigenen Organisationen, die Conaie als Dachverband indigener Völker, aber auch Pachakutik als deren parteipolitischer Arm, sind gut organisiert, deren Repräsentanten gut ausgebildet. Unterschätzt die Regierung deren Mobilisierungsfähigkeit?
Indigene Organisationen sind in Ecuador immer unterschätzt worden. Vorurteile, Rassismus und Arroganz prägen traditionell den Umgang mit indigenen Organisationen. Auch heute wird eher versucht, die Bewegung zu spalten als sie ernst zu nehmen.
Traditionell dient das »Haus der Kulturen« in Quito der indigenen Protestbewegung als Zentrum für Treffen und Koordination. Das hat die Polizei bis Donnerstag mit dessen Besetzung verhindert. Lässt sich diese Maßnahme rechtfertigen?
Nein, denn es wird zweierlei Maß angelegt. Auf der einen Seite hat die Regierung den Ausnahmezustand verhängt, um die Mobilisierung des Conaie zu unterbinden, auf der anderen Seite mobilisiert sie Ordnungskräfte im großen Stil und beschlagnahmt ein Kulturzentrum, welches Symbolcharakter hat. Das schürt die Spannungen.
Ist die indigene Protestbewegung zum Sprachrohr der Armen in Ecuador geworden, hat sie die Unterstützung von Gewerkschaften, sozialer und politischer Basis-Organisationen?
Ich denke ja. Überaus negativ ist aber, dass viele Menschen nicht friedlich auf den Straßen demonstrieren, dass es immer wieder zu Gewalt kommt. Dahinter stecken sicherlich hier und da kriminelle Banden, aber auch Anhänger des Ex-Präsidenten Rafael Correa (2007-2017, d. Red.). Die Situation ist unübersichtlich, die Regierung schwach und das Risiko einer Eskalation groß.
Die Regierung spricht zwar vom Dialog, leitet ihn aber nicht ein – warum?
Es fehlt der politische Wille aufseiten der Regierung. Die Conaie plädiert seit Wochen für Verhandlungen – ohne Erfolg. Erst daraufhin hat sie zu den Protesten mobilisiert. Der Ball liegt im Feld der Regierung.
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