No Future in Havanna

Kuba erlebt eine Landflucht: So viele Menschen wie noch nie verlassen die Insel

  • Andreas Knobloch, Havanna
  • Lesedauer: 9 Min.

»Bei mir in der Straße bereiten alle ihre Ausreise vor«, sagt Vanessa Sabater* und schaut dabei etwas trübsinnig drein. »Fast alle meine Freunde sind bereits weggegangen. Mein Facebook ist voller Leute im Ausland.« Die 25-Jährige, die als Physiotherapeutin in einer staatlichen Klinik in Havanna arbeitet, will selbst auch weg. Ihre Eltern leben in Madrid; die Mutter ist Kubanerin mit spanischer Staatsbürgerschaft. Amanda hat schon vor Jahren einen Antrag auf Familiennachzug gestellt, aber die Warteliste ist lang und die Pandemie hat das Verfahren verzögert.

»Früher haben wir recht gut gelebt«, sagt sie. Auch heute kommt sie mithilfe der Eltern über die Runden. »Aber alles ist teuer geworden.« Sie gehe kaum noch aus, da sie es sich nicht mehr leisten könne. Früher hat sie nebenbei Massagen für Touristen angeboten, aber auch die kommen seit Pandemiebeginn nicht mehr so zahlreich. Und das staatliche Gehalt reicht vorn und hinten nicht.

»Ich bin jung und will mein Glück probieren«, sagt sie. Ihr Traum ist Paris. Und so hofft sie auf die spanische Staatsbürgerschaft. Denn »nach Nicaragua und dann über die Grenze in die USA – das ist mir nichts«, sagt sie. »Viel zu gefährlich. Man hört immer wieder Geschichten von Überfällen und Vergewaltigungen.«

Nicaragua hat im November die Visumspflicht für Kubaner aufgehoben. Seitdem ist der Reiseverkehr dorthin stark gestiegen, um sich dann Richtung Norden durchzuschlagen. Viele Flüge gehen über Panama. Anfang März aber erließ Panamas Regierung ohne Vorwarnung eine Bestimmung, die ein Transitvisum für kubanische Staatsbürger vorschreibt. Nach Bekanntmachung der neuen Regelung versammelten sich Hunderte Menschen vor der panamaischen Botschaft in Havanna und skandierten: »Wir wollen reisen!« Die kubanische Polizei sperrte die Vertretung weiträumig ab und zeigt seitdem Präsenz.

Der Protest hat die kubanische Führung aufgeschreckt. Seit den Straßenprotesten im Juli vergangenen Jahres reagiert sie besonders empfindlich. Havanna macht die US-Regierung verantwortlich, Druck auf Staaten der Region auszuüben, Transitvisa zu verlangen. Das Fehlen jeglicher Übergangsfrist erzeuge Irritation und Unsicherheit, sagt ein Vertreter des Außenministeriums. Leuten, die ihr gesamtes Hab und Gut verkauft haben, um zu emigrieren, schließt sich plötzlich der Weg. Das führe zu Frust. Dies wiederum sei intendiert, um Aufruhr zu provozieren, so der Vorwurf Richtung Washington. Mittlerweile hat auch die Dominikanische Republik Transitvisa für kubanische Reisende eingeführt.

Noch ohne Visum den Weg über Santo Domingo nach Managua genommen hat Lianet Rodríguez*. »Der Flug hat mich 4200 US-Dollar gekostet«, erzählt sie. »Mittlerweile sind die Tickets bei 6000 Dollar.« Von Managua bis an die US-Grenze werden noch einmal 7500 US-Dollar pro Person fällig, sagt Lianet – »plus das Geld für die Polizisten, wenn man angehalten wird«. Mit den Schleppern ist alles im Vorfeld geklärt. »Ohne Kontakte machst Du Dich nicht auf die Reise.«

»Es ist eine Reise mit vielen Schreckmomenten«, erzählt die junge Frau. 40 Minuten mit 20-Kilo-Rucksack auf einem Pferd durch einen Grenzfluss oder mit zum Teil 80 Personen auf der Ladefläche eines Lastwagens, der mit 140 Stundenkilometern über schmale Bergpisten donnert, immer bemüht, der Polizei und kriminellen Banden auszuweichen.

Sie habe eigentlich gut gelebt in Kuba, erzählt die 32-jährige Theaterschauspielerin. »Ich habe mein Leben dort aufgegeben, weil es keine Hoffnung auf Besserung gab. Ich habe die Illusion verloren, in Kuba etwas aufzubauen. Das stundenlange Anstehen nach Lebensmitteln ist zu unserem Alltag geworden.« Sie habe sich beengt gefühlt und nicht lange überlegt, als sich die Chance bot. Mutter und Schwester leben in den USA. Mittlerweile hat Lianet Cancún erreicht. Von dort geht es weiter nach Mexicali und Tijuana und dann über die Grenze. »Ich habe noch drei Etappen vor mir und weiß nicht, was passieren wird.«

Eine, die es bereits in die USA geschafft hat, ist Amanda Bravo. »Ich habe nie daran gedacht, Kuba zu verlassen«, sagt sie. »Aber mit der Pandemie wurde die Situation immer komplizierter.« Das Hotel in Cienfuegos, in dem ihr Vater arbeitete, schloss aufgrund der ausbleibenden Touristen. Er verlor seine Arbeit. Sie selbst arbeitete in einer Bar. Auch die machte zu.

Die Corona-Pandemie hat die zuvor bereits akute Wirtschafts- und Versorgungskrise auf der Insel weiter verschärft. Durch den Einbruch des Tourismus und immer schärfere US-Sanktionen verlor Kuba einen Großteil seiner Deviseneinnahmen. Die Abwertung des kubanischen Peso im Zuge der Währungsreform Anfang 2021 befeuerte die Inflation. Unabhängige Ökonomen sprechen von 300 bis 500 Prozent im vergangenen Jahr. Mit der Teil-Dollarisierung des Einzelhandels sind viele Waren des täglichen Bedarfs zudem nur noch in Devisenläden oder auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Das Angebot in den Nicht-Devisenläden ist ausgedünnt. Seit zwei Jahren ist stundenlanges Schlangestehen für Grundnahrungsmittel zur trostlosen Normalität geworden.

»Ich bin 22 Jahre alt, ich habe Träume und jeder weiß, dass es in Kuba keine Möglichkeiten gibt«, sagt Amanda. »Alles wurde kompliziert und als Familie beschlossen wir, woandershin zu ziehen. Wir hatten einen Vorteil: ein mexikanisches Visum.« Die Familie verkaufte das Haus und flog im November 2021 nach Cancún und von dort weiter an die Grenze nach Mexicali. »Eine Person holte uns im Hotel ab und brachte uns in eine kleine Wohnung mit einem Bad, einem Kühlschrank und einem Bett, in der noch 40 andere Menschen waren.« Dort blieben sie mehrere Stunden, erzählt Amanda. Nach Anbruch der Dunkelheit ging es an die Grenze. »Wir sind etwa 15, 20 Minuten durch die Wüste gelaufen, haben einen knietiefen Fluss durchquert und dann eine Art Zaun, der ziemlich niedrig war. Von dort aus gingen wir etwa 300 Meter weiter und dann direkt zur Polizei.«

Dass sie sich vor der US-Grenzpatrouille nicht verstecken mussten, hat mit der Vorzugsbehandlung für Kubaner zu tun. Nach dem 1966 verabschiedeten Cuban Adjustement Act gewährt Washington allen kubanischen Auswanderern umstandslos politisches Asyl und eine schnelle Einbürgerung. Die sogenannte »Wet feet, dry feet«-Bestimmung, wonach nur noch Kubaner, die »trockenen Fußes« US-Territorium erreichten, in den Genuss dieser Regelung kamen, hob US-Präsident Barack Obama Anfang 2017 auf. Illegal eingereiste kubanische Staatsangehörige müssten demnach abgeschoben werden. Stillschweigend aber wird die »Wet feet, dry feet«-Policy weiter angewendet. So auch im Fall von Amandas Familie.

Nach einer Woche in einem Aufnahmelager kam sie frei. Mittlerweile ist die Familie in St. Petersburg, Florida. »Hier erledigen wir den Papierkram und das ganze Verfahren.« Ein Jahr und einen Tag nach Einreise erhalten sie einen dauerhaften legalen Aufenthalt, bis dahin staatliche Überbrückungshilfen.

Zehntausende Kubaner wie Lianet und Amanda haben Kuba seit der Revolution auf verschiedenen Wegen verlassen. Zu emigrieren war schon immer auch ein Ventil für die Unzufriedenheit. Dieser Tage aber erlebt Kuba die vielleicht größte Ausreisewelle seiner Geschichte. Vor allem junge Menschen gehen weg, zum Teil ganze Familien, von denen nicht wenige ihre Häuser verkaufen, um die Reise zu bezahlen.

Die Daten der US-Grenzschutzbehörde sprechen für sich. Seit Oktober 2021 sind mehr als 140 000 Kubaner irregulär über die mexikanische Grenze in die USA eingereist – fast anderthalb Prozent der kubanischen Bevölkerung. Und jeden Monat werden es mehr. Diejenigen, die noch in Zentralamerika auf dem Weg sind, sowie die Auswanderer nach Spanien, Russland oder Serbien sind da noch nicht mal mitgezählt. Im Jahr 2020 waren es noch knapp 14 000 Menschen, die in die USA emigrierten.

Auch finanziell ist es ein gewaltiger Aderlass für Kuba. »Es ist eine ganz einfache Rechnung«, sagt der kubanische Ökonom Omar Everleny. »Wenn man davon ausgeht, dass im Jahr 2022 etwa 100 000 Kubaner in die USA einreisen werden und die Kosten zwischen 8000 und 10 000 US-Dollar pro Person liegen, sprechen wir von einem Wert zwischen 800 Millionen und einer Milliarde US-Dollar, die das Land verlassen oder nicht ins Land kommen.«

Wer keine Kontakte ins Ausland oder nicht das Geld für die Schlepper hat, versucht es über das Meer. Die Zahl der Bootsflüchtlinge hat wieder dramatisch zugenommen. Laut US-Küstenwache ist die kubanische Migration nach Südflorida die höchste seit 2016.

Die kubanische Regierung wirft Washington vor, den ungeordneten Zustrom durch die Beibehaltung der großzügigen Asylgewährung zu fördern. Auch halte sich Washington nicht an das Einwanderungsabkommen über die Erteilung von jährlich 20 000 Einwanderungsvisa für Kubaner. Vertreter der kubanischen Regierung, die an einer geregelten Ausreise ihrer Staatsbürger ein Interesse haben, um die Situation zu entspannen, warnen hinter vorgehaltener Hand vor einer ernsten Migrationskrise in der Region.

Daran dürfte aber auch die US-Regierung kein Interesse haben. Zuletzt gab es etwas Bewegung. Beide Seiten nahmen Mitte April die seit 2018 unterbrochenen Migrationsverhandlungen wieder auf. Mitte Mai kündigte die Regierung Joe Biden an, einige der von der Trump-Administration verhängten Zwangsmaßnahmen aufzuheben. Demnach sollen das Programm zur Familienzusammenführung wieder aufgenommen, der Konsulardienst und die Visabearbeitung ausgebaut werden.

Für viele kommt dies zu spät. Mit der Wahl Bidens waren auf der Insel Hoffnungen auf eine Rückkehr zu Obamas Annäherungspolitik verbunden. Doch diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Vielmehr hat Biden anderthalb Jahre alle Zwangsmaßnahmen der Ära Trump beibehalten. Gerade jungen Kubanern fehlt die Perspektive auf Veränderung.

Auch Camilo Berriz wollte nicht länger warten. Der 32-Jährige hat Kommunikation studiert und arbeitete als unabhängiger Produzent. Im November 2021 hat er Kuba Richtung Belgrad verlassen. »Ich bin gegangen, um mir neue berufliche Welten zu erschließen. Ich habe Kommunikation studiert und in der Kino-Branche gearbeitet. Ich konnte meine Karriere im Bereich Kommunikation/Marketing aber nicht verwirklichen, weil die Gehälter nicht zum Leben reichen.« Er wechselte in die Filmproduktion, aber mit der Pandemie gab es plötzlich keine Aufträge mehr. »Ich habe nach anderen Wegen gesucht, deshalb bin ich nach Serbien gegangen.« Seine Schwester lebt dort schon seit zwei Jahren. Vor allem ist es das einzige europäische Land, für das Kubaner kein Visum benötigen – abgesehen von Russland. »Ich wollte einen Master in Barcelona machen, aber dort haben sie mir das Visum verweigert«, erzählt Camilo, »und so bin ich mit Plan B in Serbien gelandet.« Er hat sofort Arbeit als Freelancer für Filmproduktionen gefunden. So schnell wird wohl auch er nicht nach Kuba zurückkehren.

Vanessa dagegen hofft, bald einen Termin in der spanischen Botschaft zu erhalten. Die entsprechenden Konsulardienste wurden kürzlich wieder aufgenommen. Ihren kubanischen Pass hat sie vorsorglich schon mal verlängert. »Man weiß nie. Vielleicht geht es ja auch schnell – und dann bin ich hier weg.« So wie die meisten ihrer Freunde.

*Name geändert

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