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»Wunderbare Gesellschaft, perverser Staat«
Lucía González zum Bericht der Wahrheitskommission über den bewaffneten Konflikt in Kolumbien
Rund drei Jahre lang hat die kolumbianische Wahrheitskommission recherchiert, analysiert, sich mit Opfern und Tätern getroffen. Am 28. Juni erscheint der Abschlussbericht. Was kann er bewirken in einer derart polarisierten Gesellschaft?
Die zentrale Frage, die wir als Wahrheitskommission zu beantworten versuchen, ist die, was uns passiert ist in mehr als 50 Jahren eines bewaffneten internen Konflikts. Dieser Auftrag verlangt ein hohes Maß an Objektivität. Wahrheit ist ein großes Wort, dessen Definition uns seit den alten Griechen umtreibt. Was wir gemacht haben, ist vor allem zuzuhören, zu analysieren und der Frage nachzugehen, weshalb der Konflikt anhielt, Dekaden überdauerte; was sind die Faktoren dahinter? Das ist extrem kompliziert.
Lucía González ist Architektin und ehemalige Direktorin des »Museums Haus der Erinnerung« in Medellín, dem ersten prominenten Museum dieser Art in Kolumbien. Sie ist Mitglied der kolumbianischen Wahrheitskommission, die am 28. Juni ihren Abschlussbericht vorlegt. Mit ihr sprach für »nd« Knut Henkel.
Was hat Sie persönlich motiviert, in der Wahrheitskommission, die in Teilen der Gesellschaft nicht sonderlich begeistert aufgenommen wurde, mitzuarbeiten?
Ich selbst bin hier, weil ich mich für mein Land engagiere, meinen Beitrag leisten will und sicher bin, dass wir aus der Vergangenheit lernen müssen, um die gleichen Fehler in der Zukunft nicht zu wiederholen. Aus der kolumbianischen Tradition heraus machen wir immer andere für alles Negative verantwortlich. Wir müssen den Faktoren auf den Grund gehen, die den Konflikt in Gang halten, die dafür sorgen, dass wir bis heute kein befriedetes Land sind. Derzeit befinden wir uns in einer historisch überaus relevanten Situation, denn auf der einen Seite flackern neue Konflikte auf, auf der anderen Seite fordert ein relevanter Teil der Bevölkerung, die im Schnitt deutlich besser qualifiziert und ausgebildet ist als früher, einen Wandel: Diese Menschen wollen Teil einer Lösung sein. Denen gegenüber stehen jedoch sehr einflussreiche Sektoren der Gesellschaft, die aber nicht die Mehrheit bilden. Diese Sektoren nutzen die großen Medien des Landes und versuchen, eine neue Wahrheit des Postkonflikts zu schaffen.
Der Kampf um Deutungshoheit, um die historische Wahrheit ist also entbrannt?
Er lodert und über die Wahrheit wird immer diskutiert. Es gibt in Kolumbien breite Kreise der Wirtschaft, der Konservativen und natürlich innerhalb der Ordnungskräfte, die enorme Angst vor der Wahrheit haben – aber sie müssen vor uns eigentlich keine Angst haben, denn wir urteilen nicht. Wir als Wahrheitskommission versuchen festzuhalten, was in diesem Land passiert ist und liefern mit unserer Arbeit auch die Grundlage dafür, dass Unternehmer, Eliten und Armee auch reflektieren können, was passiert ist und was sie selbst zu verantworten haben. Das ist auch eine Chance: Sie können Einsicht zeigen, sich entschuldigen, sich verhalten – sie müssen nicht das fördern, was in Kolumbien derzeit passiert. Dazu gehört auch die Zunahme des Einflusses durch Drogenbanden in staatlichen Strukturen – auch in der Armee.
Die Arbeit einer Wahrheitskommission braucht und erhält normalerweise Unterstützung von der Regierung. War das in Kolumbien anders?
Die Unterstützung hat es nicht gegeben. Die Regierung von Iván Duque hat sich als Gegner der Wahrheit und Gegner der Kommission entpuppt – das ist die traurige Wahrheit. Die Regierung ist Teil des Staates und der kolumbianische Staat hat seit Dekaden die Probleme der Bevölkerung nicht gelöst, sondern sie zum Teil verursacht und zum Teil verschärft. Der kolumbianischen Regierung fehlte und fehlt der politische Wille, weil sie in erster Linie Sektoren repräsentiert, die die historische Wahrheit nicht interessiert oder die vom Krieg profitieren, ihre eigenen Interessen verfolgen. Das ist die bittere Wahrheit. Wir haben seit langer Zeit Regierungen, die die Elite repräsentieren und nicht die Mehrheit der Bevölkerung.
Welche Bedeutung wird der Bericht in Kolumbien haben?
Spannende Frage. Wir bemühen uns nach Kräften, den Bericht publik zu machen. Bis Ende August werden wir dafür arbeiten: mit Künstlern, auf Diskussionsveranstaltungen, mit Events, Ausstellungen, Theater und Poesie. Der Bericht soll zur Sensibilisierung, zur Veränderung des Bewusstseins beitragen, zum Wandel in Kolumbien, denn der wird nicht von oben verordnet, sondern wird von unten, aus der Gesellschaft heraus gelebt. Wir haben keinen wunderbaren Staat und eine perverse Gesellschaft, nein, das Gegenteil ist der Fall. Das haben auch unsere öffentlichen Veranstaltungen gezeigt, wo viele Menschen schockiert waren, auch weil sie von dem Schicksal vieler Opfer nichts wussten. Der Bericht ist umfassend, er ist kompliziert und wir müssen sehen, wie wir ihn vermitteln können. Wir wollen – das ist erklärtes Ziel – möglichst viele Menschen erreichen.
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