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- Abtreibungsverbot
Die Lehre aus den USA
Es ist falsch zu denken, Frauenrechte und körperliche Selbstbestimmung seien in Deutschland nicht in Gefahr, meint Sibel Schick
Die USA wollen Schwangere zum Gebären zwingen. Jedenfalls entschied der Supreme Court vergangenen Freitag, als er das Grundsatzurteil »Roe v. Wade« kippte, dass der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen kein Recht mehr ist. Vielmehr steht es den US-Bundesstaaten nun frei, Abbrüche zu erlauben, einzuschränken oder ganz zu verbieten. Doch ein Verbot von Abtreibungen verbietet nur sichere Schwangerschaftsabbrüche. Es wird weiterhin abgebrochen – nicht mehr in Kliniken, sondern heimlich. Dadurch werden sie potenziell tödlich. Es ist also die Sicherheit, die verboten wird, und Leben werden gefährdet. Da ist es zynisch, dass sich die Anti-Abtreibungs-Bewegung »pro life« nennt, während sie eigentlich »pro death« ist.
Die Ereignisse in den USA führen unmissverständlich vor Augen, dass wir uns nicht entspannt zurücklehnen können, wenn es um körperliche Autonomie und reproduktive Rechte geht. Ein Verbot sicherer Schwangerschaftsabbrüche bedeutet staatlich geförderte Gewalt gegen Menschenkörper und öffnet den Weg für weitere Gewalttaten: In vielen US-Städten demonstrieren seit Freitag hunderttausende Betroffene und Verbündete. Sie werden dabei teilweise heftig angegriffen. Menschen, die gegen das Urteil des Supreme Court protestierten, wurden in Arizona und South Carolina von der Polizei körperlich und mit Tränengas attackiert. In New York wurden Demonstrierende in Gewahrsam genommen. Am Freitagabend fuhr im Bundesstaat Iowa ein Truck-Fahrer in eine Gruppe von Demonstrierenden und verletzte eine Frau. Vishal P. Singh, Journalist*in aus Los Angeles, berichtete über Twitter von einer Person, die am Sonntag mit einem Messer am Arm verletzt wurde – knapp an einer Arterie vorbei. Der Täter habe das Opfer nach einer Pro-Choice-Demo verfolgt und angegriffen, heißt es. Auf den Pro-Choice-Demos in Los Angeles griff die Polizei Demonstrierende und Journalist*innen mit Schlagstöcken und Tränengas an. Jennifer Rourke, Politikerin aus Rhode Island, die sich für reproduktive Rechte einsetzt, postete am Samstag auf Twitter eine Videoaufnahme von einem Angriff auf sie in aller Öffentlichkeit und schrieb, dass der Aggressor ein Republikaner und Polizeibeamter sei. In dem Video schlägt der Mann der Politikerin mindestens zwei Mal heftig auf den Kopf.
Das alles ist kein Schock, es sind keine unerwarteten Ereignisse und es ist keine feindliche Vereinnahmung eines normalen Gesetzes durch rechte Akteur*innen. Das alles ist eine direkte Folge und logische Schlussfolgerung aus der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zum Abtreibungsrecht. Die Legimitität von Angriffen auf gebärfähige Körper wird quasi rechtlich verankert – anders kann man ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen nicht beschreiben. Und wessen Körper rechtlich angegriffen werden darf, wird es auch, da ist die Form der Gewalt egal. Die Aufhebung des Rechts auf sichere Schwangerschaftsabbrüche ist wie ein Fahrzeug, das auf uns losfährt, ein Täter, der auf uns einsticht, ein Polizeibeamter, der uns schlägt.
Der einzig positive Aspekt dieser menschenfeindlichen, faschistischen Shitshow in den USA ist, dass sie uns eine Lehre sein kann. Die US-Amerikaner*innen haben es verpasst, Schwangerschaftsabbrüche als fundamentales Recht in ihrer Verfassung zu verankern. Das liegt auch daran, dass bisher überwiegend die Stimmen weißer Frauen aus dem Mittelstand gehört wurden – eine Gruppe, deren Leidensdruck im Vergleich mit mehrfach marginalisierten Gruppen relativ gering war und ist. In Deutschland droht uns dasselbe Szenario: Solange der Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt, im Strafgesetzbuch bleibt, kann auch der Paragraf 218a, der Straffreiheit unter bestimmten Bedingungen sichert, gestrichen und der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen verboten werden. Deshalb dürfen wir uns mit der Aufhebung des Paragrafen 219a nicht zufrieden geben. Der Kampf um Selbstbestimmung und Autonomie muss weitergehen. Wer denkt, dass die Verhältnisse in Deutschland niemals so schlimm wie in den USA werden könnten, liegt falsch.
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