Proteste gegen Autonomiebeschränkung

Karakalpaken wehren sich vorerst erfolgreich gegen Bevormundung aus Taschkent

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 4 Min.

Zentralasien kommt nicht zur Ruhe. Nach den Massenprotesten in Kasachstan im Januar mit 200 Toten und in Tadschikistan im Mai mit 16 Opfern gingen am Wochenende Zehntausende Menschen in Karakalpakstan, der größten Region Usbekistans, auf die Straße, um gegen die Beschneidung ihrer Autonomie zu demonstrieren.

Wackelige Handyvideos zeigen Menschenmassen, die durch die Straßen von Nukus ziehen. Die Menschen in der Hauptstadt der Republik Karakalpakstan sind wütend über die Vorschläge zur Verfassungsänderung, die Staatspräsident Schawkat Mirsijojew in Taschkent zur öffentlichen Anhörung präsentiert hatte. Für die Minderheit der Karakalpaken steht die Souveränität auf dem Spiel.

Als nach dem Tod des Langzeitdiktators Islam Karimow 2016 der Premierminister Mirsijojew das Amt übernahm, begann sich die über viele Jahre abgeschottete zentralasiatische Republik zu öffnen und Reformen anzugehen. Vor wenigen Tagen legte Mirsijojew nun einen Katalog mit 200 Änderungen der usbekischen Verfassung zur öffentlichen Anhörung vor. Kritiker befürchten, dass der Präsident damit seine Macht zementieren will. Der neue Entwurf sieht die »Annullierung« von Mirsijojews bisherigen Amtszeiten und die Ausweitung der Amtsperioden von fünf auf sieben Jahre vor.

Arme Region mit bewegter Geschichte

Die Republik im Westen Usbekistans mit zwei Millionen Einwohnern und 40 Prozent der Landesfläche hat eine bewegte Geschichte. Von 1924 bis 1930 gehörte die Region zu Kasachstan, anschließend bis 1936 zur russischen Sowjetrepublik. 1993 unterzeichnete die Republik einen Vertrag mit dem neu entstandenen Staat Usbekistan. Demnach ist die Republik für 20 Jahre Teil Usbekistans und hat das Recht, nach einem Referendum auszutreten. Heute ist die Region verarmt und hat mit hoher Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Umweltproblemen zu kämpfen. In den vergangenen Jahren versuchte Taschkent zudem, die Karakalpaken, die mit den Kasachen verwandt sind, zu usbekisieren. So wird die Sprache in den Schulen immer weiter zurückgedrängt. Die geplante Streichung der Souveränität Karakalpakstans aus der usbekischen Verfassung brachte das Fass zum Überlaufen.

Am 1. Juli gingen in den Städten Nukus, Tschimbai und Mujnak viele Tausend Menschen auf die Straße, um sich gegen die Bevormundung aus Taschkent zu wehren. Nach verschiedenen Angaben kamen bei Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften 18 Menschen ums Leben, 243 wurden verletzt, von denen 50 im Krankenhaus behandelt werden mussten. Insgesamt soll es am Wochenende über 500 Festnahmen gegeben haben. Auf Videos und Fotos sind rot gefärbte Straßen zu sehen. Gerüchte, dass es sich dabei um das Blut von Demonstranten handele, wies das Innenministerium zurück. Die rote Farbe stamme von Flüssigkeiten, mit denen Demonstranten markiert wurden, hieß es. Die Regierung in Taschkent zeigte wenig Verständnis für die Protestierenden. Die Menschen seien auf die Straße gegangen, »weil sie die Verfassungsreform nicht richtig interpretiert hätten«, behauptete das Innenministerium. Die Behörden sprachen davon, dass die Demonstranten »die Gesellschaft spalten« wollen, und beschuldigten ausländische Mächte, für den Aufstand verantwortlich zu sein.

Präsident beugt sich schnell den Forderungen

Trotz des harten Vorgehens der Sicherheitskräfte lenkte Präsident Mirsijojew schnell ein. Bereits am 2. Juli reiste er nach Karakalpakstan und versprach, die Souveränität der Republik unangetastet zu lassen. Warum Mirsijojew den Forderungen binnen kürzester Zeit nachgab, ist unklar. Auf Unterstützung aus Russland für eine Niederschlagung, wie im Januar in Kasachstan, kann er nicht hoffen. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow betonte, dass es sich um eine innere Angelegenheit handele und Moskau nicht die Absicht habe, einzugreifen.

Bei seiner Visite in Nukus verhängte Mirsijojew den Ausnahmezustand über die Region. Bis zum 2. August werden die Zufahrten in die Region streng überwacht. Zudem gilt eine nächtliche Ausgangssperre. Da viele Läden in Nukus geschlossen sind, gibt es Berichte über Hunger. Verifizieren lassen sich diese aber nicht. Unterdessen gehen die Proteste nach Aussagen von Oppositionellen trotz des Einlenkens Mirsijojews weiter. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters äußerte der Oppositionspolitiker Putat Achunow die Befürchtung, dass sich der Protest zu einem Konflikt zwischen Karakalpaken und Usbeken ausweiten könnte.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!