»Ohne uns gäbe es keine Bilder«

Der ukrainische Fotograf Mstyslav Chernov war bis kurz vor dem Fall von Mariupol in der zerbombten Hafenstadt. Mit seinen Arbeiten legt er Zeugnis ab über das Leben in Kriegsgebieten.

  • Uli Kreikebaum
  • Lesedauer: 5 Min.
Mstyslav Chernov ist nah dran am Kriegsverlauf. Er fotografierte Schwangere in Mariupol, die am 9. März aus einer Geburtsklinik evakuiert wurden, nachdem russische Geschosse dort eingeschlagen waren.
Mstyslav Chernov ist nah dran am Kriegsverlauf. Er fotografierte Schwangere in Mariupol, die am 9. März aus einer Geburtsklinik evakuiert wurden, nachdem russische Geschosse dort eingeschlagen waren.

Herr Chernov, im Moment sind Sie in Deutschland. Davor waren sie mit einem Freund als letzter westlicher Journalist in Mariupol, sahen jeden Tag Leichen, wussten nicht, ob sie den nächsten Tag überleben. Wenn ich Ihre Bilder sehe, fühle ich mich privilegiert. Wie gehen Sie damit um, vom größten Leid im Krieg in einen scheinbar unbeschwerten Sommer in Deutschland zu kommen?

Interview

Mstyslav Chernov (Jahrgang 1985) und sein Freund Yevhen Maloletka von der Presseagentur AP waren die letzten westlichen Journalisten in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol, die von der russischen Armee besetzt und fast völlig zerstört wurde. Ihre Bilder von der zerstörten Geburtsklinik, von Massengräbern, schwer Verwundeten, Fliehenden und Toten gingen um die Welt.
 Kürzlich erhielten die beiden Fotografen den Freedom of Speech Award der Deutschen Welle. Chernov will wieder zurück in den Krieg fahren. Über seine persönlichen Traumata möchte er nicht sprechen. Es gehe um eine kollektive Erfahrung, sagt er am Rande einer Ausstellung seiner Bilder aus Mariupol in Köln. Mit ihm sprach Uli Kreikebaum.

Ich kenne diesen Kontrast zwischen großem Leid im Krieg und unbeschwertem Leben in Frieden schon, seit ich 2014 angefangen habe, über den Krieg im Donbass zu berichten. Danach war ich in Afghanistan, Syrien und Bergkarabach. Es ist ein seltsames Gefühl, Menschen zu treffen, die das Leid nicht nachempfinden können. Einerseits möchte ich nicht, dass es ihnen schlecht geht, andererseits will ich, dass sie verstehen und sich solidarisieren. Wie es mir dabei geht, das ist eigentlich nicht wichtig. Die Menschen in der Ukraine machen kollektiv die Erfahrung, bedroht zu sein. Das ist ein kollektives Trauma.

Ihre Bilder der zerstörten Geburtsklinik von Mariupol gingen um die Welt. Waren Sie sich irgendwann bewusst, wie wichtig ihre Arbeit sein würde?

Ich betrachte meine Arbeit als Journalist lieber im Zusammenhang: Mit der Abwesenheit von Informationen werden im Krieg zwei Ziele erreicht. Das erste ist Chaos. Die Menschen wissen nicht, was vor sich geht, und geraten in Panik. Zuerst konnte ich nicht verstehen, warum Mariupol so schnell zusammenbrach. Jetzt weiß ich, dass es an der fehlenden Kommunikation lag. Straffreiheit für die Kriegsverbrecher ist das zweite Ziel der Aggressoren. Ohne Informationen, ohne Bilder von zerstörten Gebäuden und sterbenden Kindern konnten die russischen Streitkräfte tun und lassen, was sie wollten. Ohne uns gäbe es keine Bilder – oder: nur manipulierte. Insofern wurde unsere Arbeit sehr wichtig – so wichtig wie die Arbeit von jedem anderen Journalisten in der Ukraine auch.

War das für Sie eine Motivation, möglichst lange in der besetzten und irgendwann fast völlig zerstörten Stadt zu bleiben?

Natürlich. Wir sind diese Risiken eingegangen, die weitaus höher waren als bei meinen bisherigen Recherchen in Kriegsgebieten, um der Welt zu zeigen, was wir gesehen haben. Ich habe noch nie das Gefühl gehabt, dass es so wichtig ist, das Schweigen zu brechen. Ich habe geweint, als uns die ukrainischen Soldaten aus dem Krankenhaus mitnahmen und sagten, das sei unsere letzte Chance rauszukommen. Ich wollte bleiben.

Sie sind mit ihrem Freund Yevhen Maloletka von der Agentur AP nachts am 23. Februar in Mariupol angekommen, eine Stunde später fielen die ersten Bomben des Krieges. Wie kam es dazu?

Der Zeitpunkt war natürlich auch Zufall. Aber wir ahnten, was die wichtigsten Ziele der russischen Armee sein würden – zum Beispiel der Korridor zur Halbinsel Krim und eben die Hafenstadt Mariupol. Wir fuhren am 23. Februar los und kauften noch Ersatzreifen. Auf dem Weg scherzten wir: Vielleicht fahren wir gerade an den Ort, an dem der Dritte Weltkrieg ausbricht.

Deutschland wird oft kritisiert, zu wenig oder zu langsam Waffen zu liefern – und nicht klar genug Position zu beziehen. Wie sehen Sie das?

Darüber sollen Politiker und journalistische Kommentatoren sprechen. Es ist nicht meine Aufgabe. Meine Aufgabe ist es, weiter zu berichten. Die Ukrainer sehen Deutschland vor allem als wichtige Verbündete. Sie erleben in Deutschland viel Solidarität. Ohne die geht es nicht.

Wie genau haben Sie in Mariupol gearbeitet?

Wir haben die Belagerung und Zerstörung durch russische Truppen mehr als zwei Wochen lang dokumentiert. Irgendwann haben wir nur noch in Kellern ausgeharrt und sind nur rausgekommen, um Fotos und Videos zu machen. Sehr oft sind kurz neben uns Granaten eingeschlagen. Ein Kollege von uns, der auch bis zuletzt in der Stadt gearbeitet hat, ist leider getötet worden. Es gab am Ende nur einen Ort in der Stadt, an dem wir eine stabile Internetverbindung hatten, und der wurde ständig bombardiert. Einmal am Tag fuhren wir dorthin und hockten uns unter die Treppe, um Fotos und Videos in die Welt zu übertragen. Mehrere Tage war außerdem ein Satellitentelefon die einzige Verbindung, die wir zur Außenwelt hatten. Der einzige Ort, an dem dieses Telefon funktionierte, lag im Freien, direkt neben einem Granatenkrater. Ich setzte mich hin, machte mich klein und versuchte, die Verbindung herzustellen.

Sie hatten also auch keinen Kontakt zu Ihrer Familie und Freunden?

Nein, über mehr als zwei Wochen nicht. Meine Mutter hat jeden Tag geweint. Aber noch mal: Es geht hier bitte nicht um mich. Es geht um eine kollektive Erfahrung von Krieg, Gewalt, Traumata. Ich habe das Privileg, dass ich diese Erfahrungen einer großen Öffentlichkeit mitteilen kann.

Wann haben Sie gemerkt, dass sie die letzten westlich orientierten Journalisten in der Stadt sind?

Die Ärzte baten uns, die Familien zu filmen, die ihre eigenen Toten und Verwundeten hereinbrachten, das Krankenhaus stellte uns seinen schwindenden Generatorstrom für unsere Kameras zur Verfügung. Niemand weiß, was in unserer Stadt vor sich geht, sagten sie. Wir konnten irgendwann nur noch einen russischen Sender empfangen. Dort war zu hören, dass die Ukrainer Menschen aus der Stadt als Geiseln hielten, auf Gebäude schießen und chemische Waffen einsetzen würden. Perfide und zynische Propaganda, während um uns herum ständig Menschen getötet wurden, auch sehr viele Kinder. Als das Krankenhaus bombardiert wurde und wir dort fotografierten, sagte uns ein Polizist: »Diese Bilder werden den Verlauf des Krieges verändern. Niemand weiß von ihnen.«

Wie wurden Sie eigentlich Kriegsreporter?

Ich habe schon 2014 als Dokumentarfotograf gearbeitet. Dann annektierte Russland die Krim, der Krieg im Donbass begann – und ich fuhr hin, um das zu dokumentieren. So ähnlich ging es vielen Kolleginnen und Kollegen. Der Krieg wurde für uns vor acht Jahren zu einem bestimmenden Thema.

Werden Sie bald wieder in die Ukraine fahren und aus dem Krieg berichten?

Ja. Ich denke, es ist wichtig, dass unabhängige Journalisten dort sind, wo das Leid am größten ist und die Menschen zeigen, wozu sie fähig sind – im Schlechten wie im Guten.

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