Die gewisse Funkstille

Eine weinrote Erinnerung an den FC Vorwärts Frankfurt (Oder) und an die Zeit, als Fußballfans noch aussahen wie Kinobesucher

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 6 Min.
Sechs gelbe Streifen sollt ihr sein! Das alte Logo von Vorwärts Frankfurt
Sechs gelbe Streifen sollt ihr sein! Das alte Logo von Vorwärts Frankfurt

Im DDR-Fernsehen waren oft fröhliche Menschen zu sehen, die in Ostberlin zwischen dem Freibad Pankow, der Schönhauser Allee und dem Alexanderplatz entlang schlenderten. Unter diesen Menschen war auch ich. Und zu Hause schaute ich mir das in unserem Schwarz-Weiß-Fernseher an, wie sich die Welt nur um uns drehte. Unser Prenzlauer Berg war überwiegend grau in grau, doch oftmals in den hellsten Tönen, so dass das Grau fast weiß aussah.

Zu unserem Viertel gehörte der Jahn-Sportpark mit dem großen Stadion. Zum ersten Mal besuchte ich es mit der Schule. Wir schauten zu, wie die Radsportler der Friedensfahrt einige Runden drehten. Als Schüler der 7. POS ließen wir uns in den 70er Jahren gerne zu solchen Ereignissen delegieren. So wie ja auch der FC Vorwärts öfters delegiert wurde, erst 1953 von Leipzig nach Berlin, in den Prenzlauer Berg und dann 1971 nach Frankfurt (Oder). Da hatte der Verein seine große Zeit gerade hinter sich, samt der sechs DDR-Meisterschaften und den vielen Europapokalspielen. Und meine fing gerade an – mit einem anderen Klub in Berlin: dem BFC.

Die Fans hießen damals noch Anhänger und sahen aus wie Kinobesucher. Irgendwie hatten sie eine Jedermanns-Kleidung: friedlich-hellgrau, passend zu den Fassaden, den Autos und dem Himmel. Der Fußball schien kein großer Aufreger zu sein. Sicher wird es etwas Gemurre gegeben haben, als es zur kollektiven Delegierung des FC Vorwärts von Berlin nach Frankfurt gekommen war, gehört habe ich davon als angehender Erstklässler aber nichts. An der Oder wiederum wird man sich darauf gerne eingelassen haben. Ich war schon ein Weinroter, Jahre vor meinem ersten Besuch eines Fußballspiels – weil wir im Sportunterricht einheitliche Turnsachen zu tragen hatten: weinrote Hose, weinrotes Hemd. Vermutlich aufgrund einer guten Idee unseres Werklehrers Herrn Terletzki, dem Vater des damaligen BFC-Mannschaftskapitäns Frank.

Es war nur eine Frage der Zeit, wann mich meine Freunde mit ins Stadion schleppen würden. Und wie es der Zufall so wollte, sollte im November ’77 der BFC den FC Vorwärts empfangen. Ein Klassiker, wie ich hörte, in dem die Gäste drauf und dran sein würden, eine alte Rechnung halbwegs zu begleichen. In meinem Block hielt man zu Dynamo und amüsierte sich über die Armeesportler, die man im »Fußball-Woche«-Sonderheft zur neuen Saison mit den Dienstgraden bei ihrem Arbeitgeber, der NVA, aufgelistet hatte. Ein Spieler war Unterleutnant, ein anderer Fähnrich. Soldaten im gelb-roten Sportzeug. So was Lustiges hatten wir noch nie gehört.

Dem Frankfurter Lutz Otto eilte der Ruf als auffälliger Stürmer voraus. Schwer auszumachen, welche der 10 000 Zuschauer in das langgezogene »Otto«-Gejohle anfeuernd oder hämisch einstimmten. Dass diese Frankfurter hier im Jahn-Sportpark einst die Hausherren gewesen sein sollen, das klang schräg. Jedenfalls schoss Otto in diesem Spiel die Führung für die Oder-Städter heraus, es ging 0:1 in die Pause. Der BFC gewann aber mit 4:1, er untermauerte die Rangordnung, die erst wenige Jahre währte. Der FCV stieg am Ende jener Saison in die Liga Staffel B ab, dem BFC standen die ersten Meisterschaften bevor. Vorwärts kam zurück ins Oberhaus und qualifizierte sich mitunter sogar für die Teilnahme am UEFA-Pokal.

Fußball in Frankfurt, das bedeutete auch eine gewisse Funkstille, wenn während der Radiokonferenz aus einem der sonstigen sechs Stadien an die Oder geschaltet wurde. Vom dortigen Stadion der Freundschaft hatten wir immer das Bild vor Augen, dass die Ränge weitestgehend leer geblieben waren und sich am oberen Geländer nur eine Doppelreihe Regenschirmträger aufhielt. Ein Rentnerverein. Hier konnten sich die Nachwuchsrabauken von Aue bis Rostock einiges herausnehmen. Ich war mit dem BFC ein paar Mal dort. Wenn der Meister kam, befanden sich im Stadion der Freundschaft anstatt der üblichen 2000 sogar 8000 Zuschauer.

An den ersten Besuch in Frankfurt kann ich mich gar nicht erinnern. Es muss ein torloses Unentschieden gewesen sein. Komisch: Beim Sex dagegen kann man sich an die erste Person erinnern, schwieriger wird es bei der zweiten. Jedenfalls wird mein zweiter Besuch in Frankfurt so 1984 gewesen sein, als der BFC zu Ehren George Orwells zum fünften Mal hintereinander Meister wurde. Mein Kumpel und ich fuhren unabhängig vom Berliner Mob in die Grenzstadt. Vor dem Bahnhof checkten vier Einheimische die Lage. Oha! Das waren doppelt so viele und dann auch noch robuster. Sollte sich neuerdings die Armee um die Gäste Frankfurts kümmern? Na, wir kamen in Frieden und wollten nur das volkseigene Halbleiterwerk besichtigen.

Der BFC gewann das Spiel nach meiner Erinnerung 1:0, und da es seit einigen Jahren so üblich war, unabhängig vom Resultat oder sonstiger Ereignisse, machte sich ein Teil der 200 Gäste zu den Blöcken der Einheimischen auf, um dort durch die abwandernden Massen hindurch zu rempeln. Es war keine Fußballgewalt, sondern eher eine Atmosphäre wie bei einer Kaufhauseröffnung. Im Zug nach Berlin saßen die Berliner locker verteilt in den Wagen. Plötzlich setzten sich zwei eher unscheinbare Herren in unser Abteil, sie wirkten etwas panisch. Im nächsten Moment folgten einige Fußballrabauken und beschimpften sie als »scheiß Stasi-Typen«. Mein Kumpel und ich argumentierten nur: »Na und, sind doch BFC-Fans!«

Meine Begeisterung für den Fußball ließ in jenem Jahr spürbar nach. Diese Oberliga samt der DDR erschien mir als fast 20-Jährigem trister denn je. Auswärts in Frankfurt, das war der richtige Abschluss für dieses nihilistische Kapitel. Noch einmal an die Oder gefahren, um sich zu vergewissern, wie doof das alles ist. Fünf, sechs Jahre später, während der Wende, benannte sich der BFC Dynamo flinker um, als der FC Vorwärts das tat, doch letzterer ging insgesamt noch schneller unter. Schön und wichtig blieb über die Jahrzehnte mein persönliches Farben-Dogma. Neulich legte ich mir ein weinrotes Fred-Perry-Shirt zu, bei dem das zackige Logo über dem Herzen und die schmalen Streifen am Kragen nicht weiß sondern gelb sind, wie eine kleine Referenz an den FC Vorwärts.

Dieser Text erschien leicht modifiziert in: Marco Bertram: Vorwärts Berlin/Frankfurt (Oder). Fußballfibel. Culturcon Medien, 196 S., kart., 13,99 €.

Am Sonntag, 10.7., lesen Marco Bertram und Andreas Gläser in Berlin bei der Reformbühne Heim und Welt im FIT, Schwedter Str. 262, Beginn 19 Uhr.

Am Mittwoch, 13.7., ab 19 Uhr lesen Frank Willmann, Marco Bertram und Andreas Gläser im Haus der Fußballkulturen, Berlin, Cantianstr. 25, Beginn 19 Uhr.

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